Wenn Essen dein Feind wird

Magersucht, Bulimie: An Essstörungen erkranken vor allem Mädchen und junge Frauen. Die Freiburger Psychologin Professor Brunna Tuschen-Caffier wurde für ihre Forschung zu Essstörungen mit dem Christina Barz-Preis ausgezeichnet. Wir wollten von ihr wissen: Was sind Essstörungen, wie entstehen sie – und kann man sie behandeln?

Frau Professor Tuschen-Caffier. Was sind Essstörungen eigentlich genau?

Man unterscheidet drei Hauptgruppen von Essstörungen: Die Anorexia nervosa – alltagssprachlich auch Magersucht genannt, die Bulimia nervosa, alltagssprachlich auch als Ess-Brechsucht bezeichnet und die Gruppe der nicht näher bezeichneten Essstörungen, wozu auch die Essanfallsstörung, die Binge-Eating-Störung, zählt.

Der erste Hinweis auf  eine Magersucht ist das niedrige Körpergewicht, festgemacht an dem  Body Mass Index (BMI), der sich aus der Relation von Körpergewicht und Körpergröße berechnet. Liegt der BMI unter 17,5 ist das schon auffallend. Natürlich können auch andere Faktoren, wie etwa körperliche Erkrankungen, Ursache für ein niedriges Körpergewicht sein.

Kommen hingegen weitere Faktoren dazu, wie eine Körperschema-Störung oder das das Ausbleiben der Menstruation, erhärtet sich der Verdacht, dass eine Magersucht vorliegen könnte.

Zentrales Merkmal einer Körperschema-Störung ist, dass die Betroffenen Angst vor dem Dickwerden haben, obwohl sie untergewichtig sind, und dass die Selbstbewertung sehr stark abhängig ist von der Wahrnehmung und Bewertung des Körpergewichtes.

Bei einer Bulimie  liegt das Körpergewicht in der Regel im Normalbereich. Die Patienten leiden dennoch  unter einer Körperschema-Störung. Ihre Selbstbewertung ist in hohem Maße abhängig von der Wahrnehmung und Bewertung ihrer Figur beziehungsweise ihres Körpergewichtes.

Außerdem kommt es regelmäßig zu Essanfällen, während derer die Betroffenen deutlich mehr essen als bei normalen Mahlzeiten. Sie fühlen sich dem Essen gegenüber sozusagen ausgeliefert und können nicht damit aufhören.

Man spricht in diesem Zusammenhang von Kontrollverlust. Die Essanfälle können sich über einen Zeitraum von zwei Stunden hinziehen. Die Betroffenen essen viel und essen Nahrungsmittel  durcheinander, die sie bei normalen Mahlzeiten so nicht verzehren. Zum Beispiel werden eine ganze Familienpackung Eiscreme, danach Buletten mit Ketchup und ein halber Kuchen mit Sahne verzehrt. Im Anschluss an die Essattacken versuchen die Betroffenen  dieses ausschweifende Essverhalten zu kompensieren, um nicht dick zu werden.

Sie führen willentlich Erbrechen herbei – indem sie sich beispielsweise einen Finger in den Hals stecken-, sie betreiben exzessiv Sport, schlucken Abführmittel. oder sie schränken ihre Nahrungszufuhr in den Tagen nach dem Essanfall extrem ein.

Die Essanfall-Störung, die Binge-Eating Störung, galt lange als eine Unterform der  Bulimie, bei der lediglich die Maßnahmen gegen eine Gewichtszunahme fehlen – wie etwa Erbrechen.  Inzwischen wird aber vorgeschlagen, sie als eigenständiges Krankheitsbild aufzufassen.

Typisch für diese Erkrankung ist, dass die Betroffenen immer wieder Essanfälle haben und dass sie zumeist zusätzlich an Übergewicht oder Adipositas leiden. Eine Körperschemastörung muss aber nicht unbedingt vorliegen.

Wer leidet man häufigsten an Essstörungen?

Bei der Magersucht und der Ess-Brechsucht ist es so, dass mehr Frauen daran leiden. 95 bis 98 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Im Unterschied zu den beiden anderen Essstörungen – der Magersucht und der Bulimie – sind rund ein Drittel der an einer Essanfalls-Störung leidenden Personen männlich.

Das ist bei einigen  psychischen Erkrankungen so.  Auch Angststörungen sind bei Frauen häufiger.

Leiden also grundsätzlich mehr Frauen an psychischen Erkrankungen?

Das kann man so nicht sagen. Hierbei spielt vor allem die sogenannte Symptomwahl eine wichtige Rolle. Die grundlegenden Probleme sind bei Männern und Frauen häufig ähnlich,  sie entwickeln aber andere psychische Störungen. Zum Beispiel neigen Männer  mehr zum Alkoholismus und auch zu anderen Substanzmittelabhängigkeiten wie Drogenabhängigkeit.

Können Essstörungen mit anderen psychischen Erkrankungen zusammenhängen?  Wie etwa Angststörungen oder Depressionen?

Ja, circa 70 Prozent der Patienten mit der Diagnose einer Essstörung leiden zusätzlich auch an Depressionen, da besteht ein eindeutiger  Zusammenhang. Es ist allerdings unklar ob die Depression eine Folge der Essstörung ist, also zum Beispiel aufgrund der Mangelernährung entsteht, oder ob es umgekehrt ist.

Bei einer geringen Nahrungsaufnahme  sind viele Stoffe nicht in ausreichender Menge vorhanden oder können nicht verstoffwechselt werden. Bei einem Drittel der Patienten geht eine Depression der Essstörung zeitlich voraus.

Die Gesellschaft sieht die Rolle der Medien im Bezug auf Essstörungen besonders kritisch. Sehen Sie das auch so?

Über Medien transportierte Ideale spielen sicher eine Rolle, da in den westlichen Industrienationen Essstörungen häufiger vorkommen als in anderen Kulturen. Medien  sind aber keine hinreichende Bedingung zur Verursachung von Essstörungen. Sonst müssten deutlich mehr Frauen erkranken, die in westlichen Industrienationen ja alle in Filmen oder Zeitschriften fest täglich superschlanke Models zu sehen bekommen.

Die Medien sind eher ein Faktor, der im Zusammenhang mit anderen Vulnerabilitätsfaktoren (Vulnerabilität = Verletzlichkeit, die Redaktion) der Entstehung von Essstörungen Vorschub leistet. So hängt es  von dem eigenen Selbstwert ab, wie stark man sich durch die Medien beeindrucken lässt oder wie gut man sich auch wieder davon distanzieren kann.

Natürlich wollen wir alle schön aussehen. Es wäre naiv zu sagen, es wäre nicht wichtig. Bei den Betroffenen ist es aber wie in einer Einbahnstraße. Sie machen alles daran fest. Es gibt keinen Weg zurück. Das können Menschen mit einer größeren, inneren Stabilität besser.

Sie haben erwähnt, dass es sich bei den Betroffenen oft um Frauen mit einem geringen Selbstwertgefühl handelt. Spielt auch Perfektionismus bei Essstörungen eine Rolle?

Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen, die an Essstörungen erkranken, tatsächlich oft sehr perfektionistisch

 

Sie haben schon Diäten und den Einfluss der Medien als mögliche Anstöße zur Entwicklung einer Essstörung genannt. Gibt es weiter bekannte Risikofaktoren?

Das ist immer verschieden. Für viele Patienten ist der Umgang mit ihren eigenen Gefühlen schwierig. Manche Mädchen oder junge Frauen haben auch Probleme damit, eine Frau zu werden oder zu sein. Hier können  Hänseleien, beispielsweise im Sportunterricht, eine Rolle spielen.

Die Mädchen denken, sie könnten ihre körperliche Entwicklung aufhalten, indem sie abnehmen. Schlankheitskuren in einem jungen Alter sind oft Auslöser für spätere Essstörungen. Anorexie beginnt daher schon oft in einem Durchschnittsalter von 13 Jahren in dem die meisten Mädchen in die Pubertät kommen.

Ein weiteres Risiko kann es sein, wenn das Thema Essen innerhalb der Familie eine zu große Rolle spielt. Wenn die Mutter viele Diäten macht oder die Eltern zu stark in die Essgewohnheiten der Kinder eingreifen, vor allem durch Verbote. Eine Studie zeigt, dass betroffene Kinder in Anwesenheit der Mutter viel schneller essen, aus Angst etwas weggenommen zu bekommen.

Bei der Bulimie liegt das Durchschnittsalter beim Beginn der Störung zwischen 15 und 17 Jahren. In Stresssituation, beispielsweise bei schulischem Stress, Belastungen in der Partnerschaft, können Essattacken den Stress kurzfristig reduzieren. Durch das Essen wird man müde, ist abgelenkt und erschafft sich dadurch kurzfristige Erholung. Wenn das häufiger vorkommt, greifen die Patienten aus Angst vor einer Gewichtszunahme zu Kompensationsmaßnahmen wie dem Erbrechen.

Essstörungen, besonders Magersucht und Bulimie werden häufig als „Modekrankheit“ bezeichnet. Nehmen Essstörungen immer weiter zu?

Ich bin da vorsichtig. Heutzutage ist die Krankheit mehr im Fokus der Forschung und auch der Medien. Außerdem ist die Aufklärung größer und mehr Leute bekennen sich dazu. Gerade die Bulimie ist sehr schambehaftet. Wer bekennt sich schon leicht dazu,  den ganzen Kühlschrank bei einer Essattacke leer gegessen zu haben?

Aber durch die Informationen über dieses Störungsbild wissen die Betroffenen, dass es sich um eine psychische Erkrankung handelt. Das macht es leichter, sich dazu zu bekennen. Das ist aber wiederum ein Beispiel dafür, dass die Essstörungen nicht zugenommen haben müssen, sondern dass sich heute vielleicht mehr Menschen dazu bekennen.

Man hört immer häufiger dass Ernährungslehre in den Schulen eine größere Rolle spielen sollte. Was kann man Ihrer Meinung nach präventiv tun?

Es ist sicher nicht falsch, Kindern ein Basiswissen zu einer gesunden Ernährung mitzugeben. Allerdings ist das nicht ausreichend. Mädchen, die an Essstörungen leiden beschäftigen sich ja fast ausschließlich mit Essen. Sie wissen alles über Lebensmittel. Wir haben für Schulen ein Präventionsprogramm  entwickelt, das sich in einer Vergleichsstudie bereits bewährt hat.

Das Programm umfasst drei Komponenten, Aufklärung über Ernährung, Gespräche über körperliche Entwicklung und den Bezug zum eigenen Körper sowie ein Problemlösetraining. Letzteres ist sicher eine der wichtigsten Komponenten. Auf jeden Fall sollten auch Jungen mitmachen, da sie ja für Mädchen in der Pubertät auch eine wichtige Rolle spielen.

Sie arbeiten an der so genannten  expositionsbasierten Körperbildtherapie. Was versteht man darunter?

Es geht um die Konfrontation mit dem eigenen Körper. Die Frauen müssen lernen, sich auszuhalten, nicht mehr wegzugucken. Man kann seinem Körper ja nicht ausweichen. Man muss sich täglich mit ihm auseinandersetzen, sei es bei einem Schaufensterbummel, bei der Sexualität, der täglichen Körperhygiene oder auch beim Sport.

Um das zu lernen, stellen wir die Patienten vor einen Ganzkörperspiegel mit Seitenflügeln, so dass sie sich von allen Seiten sehen können. Dann beschreiben sie, was sie sehen und was sie dabei fühlen. Dabei ist es wichtig alles zu beachten, auch zum Beispiel die Farbe und Form der Augen.

Je nach Patient stellt sich nach 4 bis10 Sitzungen eine deutliche Verbesserung in der Akzeptanz des eigenen Körpers ein. Die negativen Gefühle gegenüber dem eigenen Körper werden mit jedem Mal weniger, man lernt Positives wahrzunehmen.

 

Welche Folgen haben Essstörungen?

Seelische Folgen sind vor allem Depressionen und soziale Isolation. Die Essstörung nimmt viel Raum ein. Man braucht Zeit für die heimlichen Essattacken, die meist nachts stattfinden. Auch die Kompensationsmaßnahmen lassen sich nicht bei einer Verabredung oder unter vielen Menschen durchführen. Auch Reizbarkeit ist eine Folge von Essstörungen.

Körperliche Folgen sind Organschäden, Herz- und Nierenversagen bis hin zum Herzstillstand, der Todesursache bei Patienten mit einer Magersucht sein kann.. Auch Unfruchtbarkeit und Knochenschäden sind Folgeschäden. Einige der körperlichen Schäden, sind reversibel, andere nicht.

Die Betroffenen nehmen den Tod in Kauf. Ist das eine Form von Suizid?

Die Mortalitätsrate im Zusammenhang mit  der Magersucht ist tatsächlich sehr hoch. Sie ist sogar höher als bei Depressionen. Allerdings ist der Tod nicht  die zentrale Motivation der Patienten für ihr Essverhalten, das heißt, sie nehmen es eher in Kauf, dass sie in Folge der Magersucht sterben können. Das ist  wirklich bitter.

Was können Familie und Freunde tun?

Es gibt leider keinen allgemeingültigen Tipp. Das kommt immer auf die Aufnahmebereitschaft des Patienten und die Umstände der Erkrankung an. Oft tut es schon gut, mit einem Außenstehenden zu reden. Manchmal ist es gut, Gespräche mit einem professionellen Therapeuten als eine Möglichkeit zu offerieren, sich Hilfe zu holen.

Bei einer Grippe oder einem Beinbruch holt man sich ja auch Hilfe beim Fachmann, wieso also nicht bei einer Essstörung. Außerdem gibt es Selbsthilfebücher, die man sich als Einstieg mal anschauen kann. Es spielt auch immer eine Rolle, wer dem Betroffenen zur Hilfe rät, die Mutter kann hierbei  die falsche Person sein, wenn die Beziehung im Zusammenhang mit der Erkrankung ohnehin schon angespannt ist.

Professor Brunna Tuschen-Caffier

Die Arbeitsgruppe um Professor Dr. Brunna Tuschen-Caffier erforscht die Mechanismen, die zur Entstehung und Veränderung von Essstörungen führen. Sie  entwickelt neue Therapieformen zur Behandlung und Vorbeugung von Essstörungen.

Ende 2011 wurde  der Gruppe um  Prof. Brunna Tuschen-Caffier der mit 30.000 Euro dotierte Christina-Barz-Preis verliehen, der alle zwei Jahre für  herausragende Forschung zum Thema Essstörung vergeben wird.

Kontakt

Professor Dr. Tuschen-Caffier leitet am Institut für Psychologie an der Universität Freiburg, Engelbergerstr. 41, 79106 Freiburg eine Psychotherapieambulanz, die einen Schwerpunkt in der Behandlung von Essstörungen hat.

Tel.: 0761-203 3008

Fax: 0761-203 3022

www.psychologie.uni-freiburg.de

Foto: Prof. Tuschen-Caffier: privat
Veröffentlicht am 6. September 2012

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