Literatur im Diskolicht

Literatur im Diskolicht

Unbekannte Autorinnen und Autoren dürfen bei den Sätzlingen ihre Literatur an außergewöhnlichen Orten präsentieren. Am Freitag, 9. Mai 2014, fand die dritte Lesewanderung der Sätzlinge statt – diesmal in der Wiehre.

Ein richtiger Freiburger lässt sich von aprilhaftem Wetter im Mai nicht abschrecken. Denn das Artjamming in der Günterstalstraße ist gut besucht, von der Menschentraube am Eingang ganz zu schweigen. Gibt’s hier was umsonst? Nicht ganz. Dafür verschiedenfarbige Buttons, ein Heftchen mit Texten und Vorfreude.

Heute findet die dritte Lesewanderung der Sätzlinge statt. Aus rund 25 Bewerberinnen und Bewerbern wurden drei ausgewählt, die ihre noch unbekannte, eigene Literatur vorstellen dürfen – und das an außergewöhnlichen Orten, solche, die man sonst eher nicht mit Literatur verbindet. Was die Orte gemein haben, ist eigentlich nur, dass sie sich in der Wiehre befinden, wie auch das Café Artjamming, welches Ausgangs- und Endpunkt des Abends ist.

Die Luftfeuchtigkeit im Café ist enorm. Der Regen hat nachgelassen, aber seinen schwülen Nachklang haben die Besucher mit hereingebracht. Es fühlt sich an, als müssten die Fenster beschlagen sein, so wie in überfüllten Straßenbahnen bei selbigem Wetter. Doch die große Fensterfront des Artjammings bleibt transparent. Alle Anwesenden reden ausgelassen – alle, das sind hauptsächlich Studierende, aber auch Menschen mittleren Alters und Senioren. Die Menge ist einem auf Anhieb sympathisch: Es sind Menschen, die Lust auf Literatur haben.

In Gruppen zu den Vortragenden wandern

Jemand räuspert ins Mikrofon. Mario Willersinn, einer der Veranstalter des Abends, begrüßt die Anwesenden und erlöst alle, die noch nie dabei waren, von der Frage: Wie läuft das jetzt eigentlich ab? Jeder Besucher hat beim Einlass einen Button bekommen, dessen Farbe die Gruppe bestimmt, mit der er wandern wird. Geführt werden die Gruppen von den Veranstaltern Mario Willersinn und Nathalie Knors, sowie Peter, einem ehemaligen Sätzling.

Die Sätzlinge, die heute lesen und von den Veranstaltern ausgewählt wurden, sind Britta Muth, Ines Schröder und Nikolai Fritzsch. Sie dürfen ihre Lyrik und Prosa heute das erste Mal vor Publikum präsentieren – nur Nikolai ist schon vereinzelt bei Poetry Slams aufgetreten. Das Besondere bei dieser Veranstaltung ist die „Wanderung“ zu den jeweiligen Autoren und Autorinnen: An einem ungewöhnlichen Ort mache ein Gedicht möglicherweise auch etwas anderes mit dem Zuhörer, erklären die beiden Veranstalter die Idee dahinter.

Der Himmel klart wieder auf, pünktlich zum Start. Erster Stopp der Gruppe mit dem organgefarbenen Button – hierdurch entsteht gleich ein Gemeinschaftsgefühl – ist die „Casa dei Bambini“, ein Kindergarten in der Schwimmbadstraße. Zunächst heißt es: Schuhe ausziehen, wie es sich gehört. Jeder sucht sich einen Stuhl, eher aber ein Stühlchen, denn hier ist alles eine Nummer kleiner. Auch wenn die Casa nicht der eigene Kindergarten war, so bringt er doch symbolisch für alle anderen Kindergärten das Gefühl mit sich, in der Zeit zurück zu reisen. Der Schuhe entledigt, fühlt man sich wie zu Hause – wer war das letzte Mal in Socken auf einer Lesung?

Nach einer kurzen Einführung von Katharina Litzenberger, der Leiterin der Casa, trägt Britta Muth ihre Lyrik vor. Mit starker, aber sanfter Stimme erzählt sie von Kindheit und Erwachsensein, von Identitätsfindung und Verstand verlieren. Gerade als sie halb in die Runde, halb sich selbst fragt, „Ihr denkt, ich hab einen Knall?“, ertönt ein Krähen. Verwirrte Blicke, dann die Auflösung: An der Wand hängt eine Uhr, die hinter jeder Ziffer ein Tier abbildet. Es schlägt acht Uhr.

Das Gelächter ist so ausgiebig, als hätte dieser Ort geradezu darauf gewartet. Britta lacht mit, wundert sich wohl selbst über diesen passenden Zufall. Langsam fängt sie sich wieder, und liest: „Das könnt ihr von mir aus ruhig denken. Ich mag meinen Knall. Wenn er ertönt, merke ich, dass ich am Leben bin.“

Zwei Studierende sind Organisatoren

Entstanden ist die Idee für die Sätzlinge in einem Seminar der Uni Freiburg. Nathalie Knors, Soziologin, und Mario Willersinn, Romanist – beide promovieren gerade – haben das Konzept entwickelt und die erste Veranstaltung im Mai 2013 ausgerichtet. Eigentlich sollte es ein einmaliges Projekt sein, doch das Feedback der Besucher war so positiv, dass sich die beiden für eine Fortsetzung entschieden haben. Die Idee ist, jedes Mal einen anderen Stadtteil zu durchwandern, um die eigene Stadt neu und urbaner kennen zu lernen. Die verschiedenen Orte sollen im Optimalfall einen Bezug zur Literatur haben – diese Umsetzung gestaltet sich aber oft schwierig. Beispielsweise hatten sie für die aktuelle Wanderung eine Garage gesucht, waren aber erfolglos. Dennoch sind die beiden Veranstalter überrascht über die Offenheit und Begeisterung, die man ihnen bei Anfragen entgegen bringt.

In der Brombergstraße 17 wartet Martin Allmendinger, der Besitzer des Café Bicicletta, auf die orangefarbene Gruppe. Die Straße scheint sonst wie ausgestorben, kurz liegt der Hauch von Verbotenem in der Luft, als die Gruppe in das schon geschlossene Café einkehrt. Ines Schröder sitzt auf dem Tresen. Der Holzboden knarzt, als sich jeder einen Platz zum Sitzen oder Stehen sucht. An den Wänden des Altbaus hängen Teile von Fahrrädern. Jeden Atemzug hört man hier, deshalb wirken auch Ines‘ Wörter umso deutlicher. Der Ort, an dem sich die Biker tagsüber ein Radler gönnen, ist jetzt so ruhig geworden, dass selbst der Besitzer sich kaum traut, an seiner Limo zu nippen. Irgendwann schauen Leute von draußen neugierig herein. Was sie wohl denken? Ein wenig skurril sieht das Ganze sicherlich aus: Ein Haufen Menschen, die nach Ladenschluss im Biker-Café einer jungen Frau lauschen, die auf dem Tresen mit den Beinen baumelt.

Kontakt zwischen alten und neuen Sätzlingen

Besonders stolz sind die Organisatoren Nathalie und Mario auch darauf, dass alte Sätzlinge mit neuen in Kontakt treten. So hat beispielsweise Fabienne Trüssel, Sätzling der Haslach-Wanderung und Schauspielerin, die neuen Sätzlinge durch Sprachtraining auf ihre Auftritte vorbereitet. Und Peter Heidelbach, ebenfalls ehemaliger Sätzling, engagiert sich dieses Mal als Gruppenführer.

Die Orangefarbenen verlassen das Bicicletta und machen sich mit Peter auf in den südlichsten Teil der Wiehre. Als Peter plötzlich einen Waldweg einschlägt, wird es abenteuerlich. Zwar regnet es noch immer nicht, trotzdem ist die Erde matschig von zahlreichen Regenschauern der letzten Tage. Das orangefarbene Grüppchen ist inzwischen zu einer Art Wandergemeinschaft geworden, ausgelassen wird geredet und über die bisherigen Lesungen diskutiert. Wenngleich es schon fast neun Uhr ist, ist der Weg noch zu erkennen.

Bald sollen wir wissen, dass gerade dieser Ort, der letzte auf unserer Strecke, am besten zur Dunkelheit passen wird. Zwischen den Ästen offenbart sich auf einer Lichtung das Geheimnis: Das „Wasserschlössle“ des Wasserwerks Freiburg. Die Gruppe betritt den Vorraum, in dem sich mittig eine Treppe befindet. Wer sich über das Geländer lehnt, kann unten große Rohre entdecken, es riecht leicht nach Chlor. Besonders behaglich fühlt man sich hier nicht, es ist feucht und dunkel, das metallene Zischen der Wasserleitungen immer im Hintergrund. Am Fuße der Treppe steht der letzte Vortragende des Abends: Nikolai Fritzsch. Er sieht beinahe zu schüchtern aus, um gleich selbstsicher aufzutreten, aber er wird uns vom Gegenteil überzeugen.

Während Disko-Scheinwerfer bunt tanzende Lichter an die Decke werfen, tanzen Nikolais Protagonisten auf einer Party. Mit verschachtelten Sätzen erzählt er von ulkigen Zufällen, während er in seinem letzten Gedicht nachdenklich über die Ironie vom Pflegen eines Menschen schreibt, der einen selbst einst gepflegt hat. Nach der Lesung hängt das Publikum in Gedanken noch dem Gedicht nach.

Wie es wohl gewesen wäre, wenn Nikolai seine Texte in einem gewöhnlichen Raum, bestuhlt und mit hellem Licht, vorgetragen hätte? Wären die Gedanken der Besucher genauso umhergekreist wie die Lichter an der Decke?

Eine Kooperation zwischen Literaturbüro und Studierendenwerk

Die Sätzlinge werden gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, das Kulturamt Freiburg sowie das Studierendenwerk Freiburg. Die Kooperation zwischen Literaturbüro und dem Studierendenwerk hat mit der „Zwischen/Miete Lesung“ begonnen und wurde auf die Sätzlinge ausgeweitet. Ziel ist es, Studierende mit Veranstaltungen des Literaturbüros zu erreichen und somit deren kulturelle Förderung zu unterstützen. Das Studierendenwerk bewirbt die Veranstaltungen der Sätzlinge und stellt für heute Abend die Tonanlage zur Verfügung.

Nach dem Ausflug ins Artjamming zurückgekehrt ist der harte Kern – dieser, der sich durch den heftigen Regen, der nach der letzten Station auf Freiburg heruntergeprasselt ist, nicht aufgelöst hat. Laurin Freiberg, ein Musiker aus Freiburg spielt leicht-melancholische Lieder. Zufrieden wird Wein getrunken, in Sofas gelümmelt und mit dem Fuß gewippt. Einige haben die Schuhe ausgezogen.

Info

Für die nächste Lesewanderung der Sätzlinge im Herbst sind wieder eure Texte gefragt. Bis 31. Juli könnt ihr diese einsenden: saetzlinge@gmail.com

Weitere Informationen zu Art und Länge der Texte finden sich auf der Facebookseite:

www.facebook.com/saetzlinge

Foto: SC
Autoren:
Veröffentlicht am 2. Juni 2014

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