Über den Dingen stehen

Über den Dingen stehen

Am 20. Juni 2015 beginnt das einjährige Performance Projekt „Die Türmer von Freiburg“. Zweimal täglich bekommt ein Freiburger die Gelegenheit auf dem Dach des Theaters sich selbst und die Stadt aus einer ungewohnten Perspektive wahrzunehmen. uniCross hat die Dramaturgin Inga Wagner getroffen und gefragt, wie das Projekt nach Freiburg kam.

 

Inga, ab Juni werden täglich bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang Menschen als Türmer eine Stunde lang auf dem Dach des Theaters stehen. Was macht ein Türmer genau?

Die Türmer verbringen eine Stunde lang alleine in einer Art Schutzraum auf dem Dach des Freiburger Theaters. Primär geht es darum, dass es den Türmern ermöglicht wird, eine Erfahrung zu machen, die nicht alltäglich ist, sondern im Gegenteil: Für die man aus dem Alltag heraustritt. Basale choreografische Parameter werden erfahrbar, nämlich die Präsenz des eigenen Körpers, der Körper in der Stadt und das Stehen in einem relativ begrenzten Raum. Aber auch theaterspezifische Fragen sind relevant: Worauf richte ich meinen Blick? Richte ich ihn nach Innen oder nach Außen? Oder auch die Frage danach wie ich mit meiner Umwelt kommuniziere.

Wie entstand die Idee für das Projekt?

Die Idee wurde von der Choreographin Joanne Leighton entwickelt, die sich auch vor diesem Projekt schon viel mit sozialen Choreographien auseinandergesetzt hat. Ihre Arbeiten siedeln sich häufig an der Schnittstelle zum öffentlichen Raum an.

Das Projekt hat in Frankreich schon in Belfort, in Renne in der Bretagne, und in Hagenau im Elsaß stattgefunden. Nun wird es zum ersten Mal in einer deutschen Stadt stattfinden. Wieso wurde dafür gerade das Theater Freiburg ausgesucht?

Joanne Leighton verbindet mit Freiburg eine lange Tradition. Sie hat hier auch schon die Projekte „Made in Freiburg“ und „Melting Pot“ gemacht. Aufgrund dieser Verbindung wurde das Theater Freiburg ausgewählt. Das Projekt eröffnet die Tanz- und Performance Themenreihe „Public Doing“ am Theater Freiburg, die den Zuschauer zur Hauptfigur des Theaters macht.

Inwiefern spielt der Titel „Türmer von Freiburg“ auf geschichtliche Hintergründe an?

Wir haben uns kundig gemacht welcher Titel am besten beschreiben kann, was man bei dem Projekt tut. Der ehemalige Beruf des Türmers erschien uns besonders passend, da der Türmer im Mittelalter die Funktion hatte, über seine Stadt zu wachen. Von einem erhöhten Punkt blickte er über die Stadt und sandte Signale aus. Durch die Funktion des Wachens bekommt der Blick des Türmers eine besondere Qualität.

Wie sieht der Raum selbst aus, in dem die Türmer über die Stadt wachen?

Wie es bereits auf der Fotomontage sichtbar wird, besteht der Raum aus einer Holzkonstruktion. Aufgrund deutscher Sicherheitsrichtlinien kommen in Freiburg Stahlelemente hinzu. Der Raum ist circa sechs Meter lang und etwa eineinhalb Meter breit. Von Innen ist er leicht angeleuchtet, so dass der Türmer gut sehen kann. Vorne und hinten, in dem Fall Osten und Westen, ist verglast, da sich der Turm nach Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ausrichtet.

Du sprichst die Zeit der Türmerstunde an. Hat es einen bestimmten Grund, dass der Türmer gerade bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang über die Stadt wacht?

Das Projekt findet zu Sonnenauf- und Untergang statt und orientiert sich nicht an anderen raum-zeitlichen Parametern. Für das Theater sind es unübliche Vorstellungszeiten. Es soll eine andere Zeitrechnung etabliert werden. Dabei geht es nicht primär um das Erleben des Aufgehens und Untergehens der Sonne, sondern vor allem darum, sich des Alltags zu entledigen und sich für eine Weile nicht an gewohnten Konventionen zu orientieren. Aus diesem Grund werden den Türmern auch vor Betreten des Raums Gegenstände, die mit Zeit zu tun haben wie Handy und Uhr, abgenommen.

Geht es also primär um den Effekt auf den Türmer oder ist auch der Aspekt des Angeschaut werden wichtig?

Da der Turm in Freiburg auf dem Dach des Theater errichtet wird, ist natürlich auch die Schnittstelle zwischen Performer und Zuschauer wichtig. Der Türmer ist aber wegen des Gegenlichts nicht unbedingt zu erkennen. Für den Türmer soll es nicht in erster Linie um eine Performance im Sinne von Unterhaltung für die Bürger der Stadt gehen, sondern darum seine Präsenz wahrzunehmen. Was jeder Türmer dann tatsächlich erlebt ist natürlich von Person zu Person unterschiedlich.

Die Türmer sollen auf die Erfahrung in einem Workshop vorbereitet werden. Wie muss man sich diese Workshops vorstellen?

Die Workshops finden alle zehn Tage statt und sollen vor allem zur Sensibilisierung der Teilnehmer dienen. Es geht um die Einstimmung auf das Projekt und auch konkret darum: Wie kann ich meine Position verändern, wie bleibt es bequem? Wie kann ich meinen Blick fokussieren? Natürlich enthält der Workshop auch einen administrativen Teil. Es soll aber auch darum gehen, dass die Menschen zusammen kommen und sich austauschen können.

Neben dem Türmer selbst gibt es auch noch einen Begleiter des Türmers. Welche Rolle spielen diese Begleiter?

Der Begleiter hat eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie der Türmer selbst. Er soll der Gastgeber des Türmers sein und trägt eine besondere Verantwortung für ihn. Als Begleiter ist man Ansprechpartner und trägt dafür Sorge, dass die Türmer eine angenehme Zeit erleben können.

Wird das Projekt in irgendeiner Form dokumentiert?

Die Türmer schreiben ihre Eindrücke nach der Stunde auf, woraus dann eine Publikation entsteht. Es soll eine Art Stadtchronik über das vergangene Jahr entstehen, welche die Menschen selbst geschrieben haben. Zu diesem Zweck machen die Begleiter außerdem ein Foto ihres Türmers am Turm.

Wie ist die Nachfrage am Projekt in Freiburg?

In Freiburg ist das Interesse sehr groß und mittlerweile sind sogar schon alle Türmer-Zeiten belegt. Wir suchen aber ab September noch nach Begleitern.

Wie finanziert sich das Projekt?

Das Theater Freiburg selbst finanziert das Projekt. Nichtsdestotrotz sammeln wir noch Spenden, da es auch regelmäßige Türmer-Interventionen geben soll, damit wir das Projekt mit noch mehr Menschen teilen können. Für die Teilnehmer selbst ist das Projekt kostenlos, da wir es allen Interessierten ermöglichen wollen, mitmachen zu können.

Zur Person
Inga-Wagner-(Copyright-Rainer-Muranyi)Inga Wagner ist zusammen mit Anne Kersting und Jutta Wangemann Dramaturgin und Ansprechparterin für das Türmerprojekt am Theater Freiburg. Dort fungiert sie außerdem als stellvertretende Leitung Tanz.

Infos

Inzwischen sind alle 730 Türmerplätze vergeben, es gibt allerdings eine Warteliste und noch offene Begleiterplätze.

Anmeldung für das Projekt: Unter www.dietuermervonfreiburg.de oder telefonisch unter Tel. 0761 – 201 – 29 72, immer Di bis Fr von 12 bis 15 Uhr.

Voraussetzungen Türmer: 16 Jahre, Begleiter: 18 Jahre

Das Projekt „Die Türmer von Freiburg“ – Eine Stunde auf dem Dach des Theater Freiburg findet vom 20. Juni 2015 bis 19. Juni 2016 statt.

Das Eröffnungsfest findet am 20.6, ab 22 Uhr statt.

Foto Theater: Theater Freiburg
Foto Inga Wagner: Copyright Rainer Muranyi
Autoren:
Veröffentlicht am 15. Juni 2015

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