Erinnerung in den Alltag integrieren

Erinnerung in den Alltag integrieren

Im Frühjahr 2013 wurden für den Freiburger Philosophen Edmund Husserl Stolpersteine in der Lorettostraße und vor dem KG I verlegt. Insgesamt verwandeln nun etwa 350 kleine Messingplatten die Freiburger Bürgersteige in Orte des Erinnerns.

 

An der Uni Freiburg ist der Philosoph Edmund Husserl längst eine bekannte Größe. Als Begründer der Phänomenologie ist er aus Lehre und Forschung nicht mehr wegzudenken. Die philosophische Strömung, die Bewusstseinsvorgänge analysiert, hat heute einen beträchtlichen Einfluss und kommt auch in den Naturwissenschaften zur Geltung. Im Frühjahr wurden anlässlich von Husserls 75. Todestag zu seinem Gedenken Stolpersteine sowohl vor seinem letzten frei gewählten Wohnort in der Lorettostraße 40 als auch vor dem Haupteingang des KG I verlegt.

Die Messingplatten erinnern an die Diskriminierung, die der Philosoph während des Nationalsozialismus aufgrund seiner jüdischen Herkunft zu erleiden hatte. „Die Möglichkeit nicht nur vor dem Haus in der Lorettostraße, sondern auch das erste Mal einen Stolperstein im Bereich der Universität zu verlegen und so Husserls Schicksal zu gedenken, fand ich angemessen“, betont Professor Hans-Helmuth Gander, Direktor des Husserl-Archivs Freiburg, das Kopien aller Manuskripte von Husserls umfangreichem Nachlass enthält.

Husserl wurde Lehrerlaubnis entzogen

Edmund Husserl

Edmund Husserl

Edmund Husserl war 1916 an die Uni Freiburg berufen worden. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten fühlten er und seine Frau Malvine sich zu anfangs noch sicher. Beide stammten zwar aus jüdischen Familien, waren aber schon in jungen Jahren zum evangelischen Glauben konvertiert. Infolge eines Erlasses der Badischen Landesregierung im April 1933, der die Entlassung aller „nichtarischen“ Beamten festlegte, wurde Husserl die Lehrerlaubnis entzogen. Zwar wurde sie ihm aufgrund einer Diskrepanz in der gesetzlichen Lage zwischen Landes- und Reichsebene kurzfristig wieder erteilt, aber 1936 wurde ihm die Lehrerlaubnis endgültig entzogen und sein Name aus den Universitätsverzeichnissen gestrichen.

Auch im privaten Umfeld hatten Edmund Husserl und seine Frau Malvine keine Ruhe. Ein im selben Wohnhaus lebender SA-Mann und andere Nachbarn drangsalierten das Ehepaar Husserl so sehr, dass beide 1937 aus ihrer Wohnung in der Lorettostraße auszogen. Nur wenige Monate nach dem Umzug in die Schöneckstraße 6 erkrankte Edmund Husserl nach einem Sturz an einer Rippenfellentzündung und starb am 27. April 1938.

Das Stigma des Juden hatte auch für Robert Liefmann, Professor für Nationalökonomie, grausame Folgen. Für ihn wurde der erste Stolperstein in Freiburg verlegt. Von 1904 bis 1933 hatte er an der Uni Freiburg gelehrt und wurde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aufgrund seiner jüdischen Herkunft aus seinem Dienst entlassen. Am 22. Oktober 1940 wurde Robert Liefmann mit seinen beiden Schwestern Else und Martha in das Lager Camp de Gurs am Fuße der Pyrenäen deportiert. Mit Hilfe von Schweizer Freunden erhielten die Geschwister 1941 die Erlaubnis für einen Erholungsurlaub in ein kleines Hotel ins nahe gelegenen Morlaàs zu gehen. Der bereits kranke Robert Liefmann starb dort nur kurze Zeit später, seinen beiden Schwestern gelang die Flucht ins Ausland.

2002 gab es den ersten Freiburger Stolperstein

Als im Oktober 2002 zur Erinnerung an Professor Liefmann die Messingtafel mit eingravierter Schrift in den Bürgersteig der Goethestraße 33 eingelassen wurde, fehlte noch die offizielle Genehmigung von der Stadt Freiburg. Das öffentliche Interesse war dennoch immens. Journalisten, Uni-Professoren sowie Schulklassen waren bei dem Ereignis anwesend. Im Dezember genehmigte der Gemeinderat dann einstimmig die Verlegung von Stolpersteinen in Freiburg.

Seitdem hat Marlis Meckel, Initiatorin der Stolpersteine in Freiburg, das Zepter in der Hand: „Wir dürfen Stolpersteine verlegen wo wir wollen, denn die Bürgersteige gehören allen und durch die Zustimmung vom Gemeinderat müssen wir keine Hausbesitzer um Erlaubnis fragen.“

Mittlerweile sind die glänzenden Messingquadrate ein fester Bestandteil des Stadtbildes. Ungefähr 350 Stolpersteine wurden bis jetzt in Freiburg verlegt und viele weitere sind in Planung. Dabei ist die Verlegung als solche der geringste Teil der Arbeit. „Die vorhergehende Recherche ist oft sehr aufwendig. Manchmal vergehen Jahre bis alle biographischen Daten einer Person ausfindig gemacht wurden und der Stolperstein verlegt werden kann“, betont Marlis Meckel. Um die umfangreichen Recherchearbeiten bewältigen zu können, arbeitet sie mit einer kleinen Gruppe zusammen, die diverse Archive durchforstet, um die Lebensdaten der Freiburger Opfer des Nationalsozialismus zu rekonstruieren.

Stolpersteine erinnern an individuelle Schicksale

Ursprünglich stammt die Idee von dem Künstler Gunter Demnig, der 1997 in der Oranienburgerstraße in Berlin-Kreuzberg die ersten Stolpersteine verlegt hat. Auch hier war die Aktion zunächst illegal, wurde aber nur wenige Monate später von der Stadt genehmigt. Inzwischen ist das Projekt mit über 40.000 verlegten Steinen in mehr als 800 europäischen Städten zum weltweit größten dezentralen Mahnmal herangewachsen. Angesichts der gewaltigen Zahlen von ungefähr 6 Millionen Opfern, die der Holocaust forderte oder die geschätzten 300.000 Euthanasie-Morde, ist das Ausmaß der Grausamkeit kaum greifbar.

Die Stolpersteine rücken die individuellen Schicksale in den Fokus und retten die einzelnen Opfer vor dem Vergessen. „Es gibt ganze Familien, die im Nationalsozialismus ermordet wurden, wie die Familie Herborn aus der Scheffelstraße. Ohne die Stolpersteine würde heute nichts mehr an sie erinnern“, berichtet Marlis Meckel. Dass die Stolpersteine überall in der Stadt verteilt sind, zeige auch, wie sehr diese Menschen, die plötzlich ausgegrenzt und vernichtet wurden, eigentlich dazu gehörten.

Anders als die meisten Mahnmale und Gedenkstätten, deren Besichtigung ganz bewusst erfolgt, begegnet man den Stolpersteinen meistens zufällig. So werden sie Teil des Alltags. „Die Steine sind dezent und dennoch präsent. So können sie leichter von den Menschen akzeptiert werden“, erklärt Marlis Meckel den Erfolg des Projekts. „Um die Schrift zu lesen, muss man sich verneigen“. Hierin besteht sicherlich ein symbolischer Akt des Respekts und der Wahrnehmung der einzelnen Opfer des NS-Regimes.

München möchte keine Stolpersteine

Obwohl die Stolpersteine in den Bürgersteigen immer mehr europäischer Städte zu finden sind, gibt es auch kritische Stimmen zum Projekt. Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, empfindet die in den Boden eingelassenen Steine als Missachtung der Opfer, da so auf ihnen herumgetreten werde. München hat sich daher als eine von wenigen Städten gegen die Initiative entschieden.

In Freiburg scheint die Kritik dieser Form der Erinnerung indessen keinen Abbruch zu tun. Auch Edmund Husserl erfährt durch die Stolpersteine wieder mehr Aufmerksamkeit und wird nicht nur als weltweit berühmter Philosoph, sondern auch als Mensch mit einem harten Schicksal gesehen. Schon öfters sei Professor Gander positiv auf die Verlegung der Steine angesprochen worden, die auch außerhalb der Uni zu einer stärkeren Wahrnehmung des Philosophen beigetragen habe.

„Ich freue mich sehr über das große öffentliche Interesse, das Husserl seitdem erhält. Regelmäßig sehe ich Studierende, die einen Moment vor dem KG I innehalten und den Stolperstein betrachten.“

Infos Stolpersteine

Mehr zur Initiative und zum Künstler Gunter Deminig unter stolpersteine.com

Wer mehr über die Freiburger Stolpersteine erfahren möchte: Meckel, Marlis: „Den Opfern ihre Namen zurückgeben“, Freiburg, Rombach Verlag, 2006.

Das Freiburger Husserl-Archiv

Das Husserl-Archiv in Freiburg erschließt und editiert den Nachlass Husserls. Nach dem Krieg gründeten die Mitarbeiter Husserls, Eugen Fink und Ludwig Landgrebe, in Freiburg und in Köln eigenständige Husserl-Archive.

Zur Webseite des Husserl-Archivs geht es hier: husserlarchiv.de

Fotos: Husserl Archiv
Veröffentlicht am 24. Oktober 2013

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