Geschichte schreiben

Geschichte schreiben

Für den Diaryslam öffnen mutige Leser ihre verstaubten Tagebücher und lassen das Publikum in ihre Gedankenwelten eintauchen. Das gute alte Tagebuch wird dadurch wieder ins Scheinwerferlicht gerückt. Warum überlebt das Phänomen des Tagebuchs auch in der heutigen, digitalen Welt? Mit Text & Video.

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Das Konzept des Diaryslams ist schnell erklärt: Fünf bis sechs Leser lassen die Öffentlichkeit an ihren persönlichen Tagebucheinträgen teilhaben. Das Publikum entscheidet, welches Tagebuch mitsamt dem dazugehörigen Vortrag am unterhaltsamsten war und wählt zwei der Leser ins Finale. Diese dürfen dann erneut aus ihren Einträgen vorlesen und am Ende entscheidet das Publikum, wer siegt.

Der Trend startete in Amerika im Jahr 2001 und erreichte 2011 schließlich Hamburg, wo der erste deutsche Diaryslam stattfand. Seitdem gewinnt der Diaryslam immer mehr an Popularität und es wurden schon komplette Tagebücher von Slamern veröffentlicht.

Im Juli 2012 fand der Diaryslam zum ersten Mal auch in Freiburg statt und wird seitdem monatlich veranstaltet. Neugierige Menschen können den ursprünglich im Geheimen notierten Zeilen lauschen, sich fremdschämen und ganz viel lachen.

Den Kummer von der Seele schreiben

Schon Caesar schrieb seine Erlebnisse auf und spätestens mit dem bewegenden Tagebuch der Anne Frank erhielt das Tagebuchschreiben einen Kultstatus. Dieses Phänomen gipfelt heute in der modernsten Tagebuchform, dem Blog. Doch was bewegt Menschen dazu, ihre Erlebnisse aufzuschreiben und wieso hat sich der schriftliche Monolog schon so lange gehalten?

Diaryslam

Beim Diaryslam lesen Menschen aus ihren Tagebüchern vor.

Paula Szedlak organisiert den Diaryslam und studiert Medienkulturwissenschaft an der Universität Freiburg. „Das Tagebuch punktet vor allem durch seine Verschwiegenheit“, sagt Paula. „Gibt es denn eine bessere Möglichkeit, Dinge loszuwerden, die man sonst keinem erzählen kann?“ Schreibt man Tagebuch, schreibt man sich seinen Kummer von der Seele, ohne im Nachhinein dafür verurteilt zu werden.

Tagebuch-Schreiben: Beichte und Befreiung

Eva Schauerte, Medienkulturwissenschaftlerin an der Universität Freiburg, bezeichnet das Tagebuch als „Medium der Selbstprojektion“. Es vermittle als Bewusstseinsmedium zu womöglich verstaubten Erinnerungen und hilft uns so, sich in vergangene Situationen zu versetzen.

„Die Geschichte des Tagebuchs ist natürlich sehr weitreichend, im Grunde haben die Menschen schon immer über sich selbst geschrieben“, sagt Eva Schauerte. Trotzdem ließen sich Veränderungen in der Art des Tagebuchschreibens erkennen. In der Antike habe man „über sich selbst“ geschrieben, um sich selbst zu prüfen und sich gegen zukünftige Versuchungen zu wehren. Bis in das 17. Jahrhundert hinein sei das Tagebuchschreiben dann auch stark mit dem Ablegen der Beichte verbunden gewesen.

Auch heutzutage treibe noch ein versteckter Bekenntniszwang die Menschen zur Verschriftlichung eigener Erfahrungen und Gedanken – doch der Beichtfaktor spiele dabei keine allzu große Rolle mehr. „Trotzdem kann man das Tagebuch unter Umständen auch als ein Medium der Befreiung ansehen“, meint Eva Schauerte. Nicht nur der Bekenntniszwang motiviere, sondern auch der Wille, etwas von sich selbst auf dieser Welt zu hinterlassen. So ermögliche das Tagebuch dem Schreiber, ein Subjekt für die Ewigkeit zu werden.

Das Tagebuch im digitalen Zeitalter

Heutzutage ist es einfach, sich selbst für immer festzuhalten: Schon ein Profil in den sozialen Netzwerken reicht aus, um auf ewig im Internet präsent zu sein. Schreiben wir also alle eine Art öffentliches Tagebuch, wenn wir regelmäßig etwas posten?

Nicht nur, dass es einen Haufen digitaler Tagebücher gibt – das Publikum ist auch sehr viel größer als früher. Natürlich gilt hier die goldene Regel des Internets: Bedenke genau welche Informationen du von dir preisgibst. Den eigenen Bekenntniszwang sollte man wohl doch lieber im stillen Kämmerlein ausleben, anstatt im Internet. Auch Eva Schauerte betont: „Es ist wichtig, sich an das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit zu erinnern. Persönliche Bekenntnisse und das Internet sind nicht zwangsläufig eine gute Mischung“, daran solle man immer denken.

Um nicht vorbehaltlos allen alles von sich preiszugeben, könnte man zum Beispiel mit den Möglichkeiten des Internets spielen. Anstatt sich den Vorgaben der sozialen Medien zu unterwerfen, können wir sie innovativ nutzen. Wenn Facebook mich das nächste Mal fragt, was ich denn gerade so mache, kann ich der Facebook-Gemeinde ja auch einfach mal meinen letzten Gedankengang in lyrischer Form mitteilen.

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Infos zum Diaryslam

Für alle, deren Interesse am Diaryslam geweckt wurde: Der Diaryslam findet jeden ersten Mittwoch im Monat in Freiburg statt. Das Räng Täng Täng öffnet dann ab 20 Uhr die Türen, Beginn ist ab 21 Uhr.

Vorleser werden immer gesucht, anmelden kann man sich ganz einfach auf der Facebookseite: www.facebook.com/diary.slam.fr

Text – Fotos – Video:
Gemeinschaftsproduktion von Fabian von Seggern, Luis Stuhlfelder, Constanze Wollenweber und Johanna Wagner,
im Seminar Journalismus crossmedial für Studierende der Medienkulturwissenschaft.

Seminarleitung: Silvia Cavallucci, Horst Hildbrand.

Veröffentlicht am 12. März 2014

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