Der intellektuelle Schmuggler

Der intellektuelle Schmuggler

Carl Djerassi, Vater der Pille und Schriftsteller, ist am 30. Januar 2015 in San Francisco gestorben. uniCross hat mit dem 91-jährigen noch im Mai darüber gesprochen wie Theaterstücke die Einsamkeit vertreiben, wie ihn seine große Liebe zum Schreiben brachte und warum Leidenschaft wichtiger ist als Geld. Das Interview gibt es hier zum Nachlesen.

Herr Professor Djerassi, Sie sind seit 30 Jahren Schriftsteller, interessieren sich für Kunst, Philosophie, sind von Hause aus Chemiker. Woher kommt Ihre Leidenschaft für Kunst und Literatur?

Wenn ich etwas tue, dann tue ich das mit Leidenschaft. Deswegen bin ich auch ein totaler Workaholic, was gut und schlecht ist. In meiner neuen Biographie „Der Schattensammler“ spreche ich über die Schatten meines Lebens. Für Schatten braucht man immer Licht und man braucht einen Gegenstand, der den Schatten macht. Dieser Gegenstand bin entweder ich oder es sind die Dinge, die mir passiert sind. Schatten will man für gewöhnlich eher verstecken, aber in meinem Alter möchte ich vor allem über die Schatten sprechen. Wenn ich in meinem vergangenen Leben etwas ändern könnte, dann würde ich nicht immer 110 Prozent effizient arbeiten, sondern nur 97 Prozent. Das ist genug, dann hat man immer noch 13 Prozent für andere Sachen. Das hätte ich tun sollen, tue es aber heute noch nicht, ich arbeite immer noch sieben Tage die Woche. Jetzt ist das allerdings auch eine gute Behandlung gegen die Einsamkeit, denn meine Frau ist vor sieben Jahren gestorben.

Es war Ihre Frau, die Sie in den 1980er Jahren dazu veranlasst hat, Romane zu schreiben. Wie kam es dazu?

Der Grund war Rache, Rache ist immer ein starkes Motiv. Meine dritte Frau war die große Liebe meines Lebens, eine Liebe, die ich in meinen späten 50er Jahren erlebt habe. Sie war eine fantastische Frau, intelligent, selbstständig und sehr elegant. Nachdem wir fünf Jahre zusammen waren hat sie mir eines Tages gesagt, dass sie sich in einen anderen verliebt habe und es mit uns vorbei sei. Für mich war das eine eiskalte Dusche, ich war sehr beleidigt. Eine typisch männliche Macho-Reaktion. Ich dachte, sie hat doch mich, wie kann sie sich dann in einen anderen verlieben? Sie hieß Diane Middlebrook und war eine bekannte Literaturprofessorin und Autorin, ich war ein Chemiker. Über den anderen Mann wusste ich nur, dass er ein Literatus war. Also wollte ich es ihr zeigen und habe eine Explosion von Gedichten geschrieben.

Dann habe ich einen Roman verfasst, über einen fantastischen Mann, einen tollen Liebhaber, dessen Frau sich irgendwann in einen anderen verliebt. Der Mann hatte zufälligerweise ein steifes rechtes Bein, ich habe ein steifes linkes Bein. Am 8. Mai 1984, ich weiß noch genau den Tag, habe ich einen Brief von Diane bekommen. Sie hat mir Blumen geschickt und fragte mich, ob wir über unsere Trennung sprechen wollten. Als Antwort habe ich ihr das Manuskript geschickt. Sie war entsetzt. Wir waren beide bekannte Leute und die Leser hätten sofort wissen können worüber ich schreibe. Aber es hat uns wieder zusammengebracht. Wir haben uns entschlossen zu heiraten, ich musste ihr allerdings versprechen, niemals dieses Buch herauszubringen. Meine Frau war eine sehr gute Schriftstellerin und Biographin. Mein Roman hingegen war nicht einmal gut und das hat sie mir auch gesagt. Aber sie hat gemerkt, dass ich ehrgeizig war und Disziplin hatte. Sie schlug mir vor, mit Kurzgeschichten anzufangen, um das Schreiben zu lernen. Das habe ich gemacht.

Kurze Zeit später, mit 62 Jahren, wurde bei mir Darmkrebs festgestellt. Das war das erste Mal, dass ich über den Tod nachgedacht habe. Ich dachte, wenn ich das vor fünf Jahren gewusst hätte, hätte ich ein anderes intellektuelles Leben führen wollen. Wegen dieser Kombination aus Rache und der Tatsache, dass ich vielleicht nur noch wenig Zeit haben würde, beschloss ich, mein Labor zu schließen und Schriftsteller zu werden.

Mittlerweile sind Sie ein anerkannter Schriftsteller, als Chemiker waren Sie ebenfalls sehr erfolgreich. Haben Sie denn noch Träume, Ziele, bei allem, was sie bereits erreicht haben?

Ich bin eine sehr ambitionierte Person und war das auch immer. Das ist auch ein Schatten. Denn wenn ich etwas tue, möchte ich es sehr gut machen und will anerkannt werden. Es ist schwer zu sagen was ich noch Neues machen will, aber es wird wahrscheinlich mit dem Schreiben zu tun haben. Leider bin ich jetzt schon über 90 Jahre alt und alleine. Hier hilft mir das Schreiben sehr. Vor allem das Schreiben von Theaterstücken ist ideal, denn da habe ich ununterbrochen Gespräche um mich herum, Theater besteht ja aus Gesprächen. Ich bin sehr intuitiv, nicht wie ein Naturwissenschaftler, der alles genau plant. Ich weiß nie, wie ein Buch endet, wenn ich es anfange. Ich lerne beim Schreiben und mache verrückte und interessante Sachen mit den Figuren. Das ist dynamisch und schön. An Theaterstücken gefällt mir besonders, dass man ein Stück immer ändern kann, wenn man es für die Bühne schreibt und mit Regisseuren und Schauspielern daran arbeitet. Ich gehe oft zu den Aufführungen und ändere die Stücke für die verschiedenen Länder und Kulturen ab.

Sie nennen viele Ihrer literarischen Werke „science-in-fiction-Literatur“. Wieso ist es Ihnen wichtig, Naturwissenschaft in der Literatur zu thematisieren?

Die Antwort ist gefährlich für mich, denn ich habe didaktische Motive. Die Leute wollen aber nichts lernen, wenn sie ins Theater gehen oder einen Roman lesen. Als ich mich entschlossen hatte, ein intellektueller Schmuggler zu werden, begann ich, Ideen, die etwas mit Wissenschaft zu tun haben, hineinzuschmuggeln. Und zwar in das Gehirn von Leuten, die sich entweder nicht dafür interessieren oder glauben, es sowieso nicht verstehen zu können. Ich schmuggle das Verhalten der Naturwissenschaftler, die gewöhnlich für die Leute „Frankensteins“ oder einfach komische Personen sind, in die Literatur.

Meine Frau und ich waren wie Fremde aus zwei verschiedenen Welten, denn die Literaturwissenschaftler benehmen sich ganz anders als die Naturwissenschaftler, obwohl wir in der Universität nur 500 Meter voneinander entfernt waren. Sie hat mich nie Liebling oder Carl genannt, sondern immer „chemist“, das hat sie sehr liebkosend gesagt. Als sie mich zum ersten Mal zu einer Versammlung begleitet hat, hat sie mich „chemist“ gerufen und 100 Leute haben sich umgedreht: Da hat sie dann gesehen, dass das kein privates Wort ist.

In Ihrem Theaterstück „Unbefleckt“ gehen Sie ein auf die Trennung von Sexualität und Reproduktion…

Jeder weiß, dass Sexualität und Fortpflanzung getrennt sind in einer Gesellschaft, in der man im Schnitt eineinhalb Kinder und sehr oft Sex aus den verschiedensten Gründen hat. Mit Ausnahme von eineinhalb Mal ist nicht einer dieser Gründe Reproduktion. Ungefähr 50 Prozent der Schwangerschaften sind unerwartet. Das kann natürlich eine wunderschöne Überraschung sein, aber 50 Prozent dieser 50 Prozent sind unerwünscht. Das heißt, dass 25 Prozent aller Schwangerschaften nicht gewollt sind. Ich denke, dass in Ländern wie Österreich oder Deutschland die Trennung zwischen Sexualität und Reproduktion bald total sein wird. Vor allem bei Frauen, die gut ausgebildet sind und Karriere machen wollen. Oft verschieben Frauen den Zeitpunkt der Fortpflanzung immer weiter nach hinten, bis hin zu einem Zeitpunkt, der schon gefährlich sein kann. Junge Frauen werden in Zukunft einen Teil ihrer Eizellen einfrieren lassen, um später dann mit Hilfe einer In-Vitro-Befruchtung schwanger zu werden. Junge Frauen wollen sich auf Ausbildung und Karriere konzentrieren und Kinder erst später bekommen. Ein erwünschtes Kind ist immer ein beliebtes Kind, und ein solches Kind ist die größte Verbindung zwischen zwei Menschen, mehr als eine Hochzeit es sein kann.

1936 flohen Sie mit Ihrer Mutter vor den Nationalsozialisten nach Amerika. Um studieren zu können, sollen Sie die damaligen First Lady Eleanor Roosevelt um ein Stipendium gebeten haben.

Ja, das stimmt, für mich ist das heute auch unfassbar. Ich bin mit 16 Jahren nach Amerika gekommen und wollte eigentlich Medizin studieren, denn meine Eltern waren beide Ärzte. Da ich kein Geld für ein Studium hatte, habe ich diesen wirklich naiven Brief an Frau Roosevelt geschrieben – und komischerweise hat es geklappt. Drei Wochen später habe ich eine Postkarte bekommen und hatte ein Stipendium für ein Chemiestudium. Das habe ich sehr gut zu Ende gebracht und begonnen als Chemiker in einer großen Schweizer Firma zu arbeiten. Ich wollte Geld für mein Doktorat als medizinischer Chemiker verdienen. Mit 19 habe ich beschlossen, mein Doktorat in organischer Chemie zu machen. Das hat mich später auch zur Pille gebracht.

Haben Sie einen Tipp für Studierende, die in der Forschung Karriere machen wollen?

Das Wichtigste ist, dass sie sich nicht langweilen und nicht machen, was jemand anderes will, oder etwas studieren, weil man in diesem Beruf später gut Geld verdienen kann. Als meine Frau gestorben ist, hat sie etwas sehr Überraschendes zu mir gesagt, nämlich: „Chemist, you never bored me“, „du hast mich nie gelangweilt“. Das ist etwas, das man sich auch immer selbst sagen sollte. Man soll sich selbst nicht langweilen. Wenn Sie etwas wirklich interessiert, dann sind Sie engagiert, egal ob Sie ein Chemiker werden wollen oder ein Cellist.

Zur Person

Carl Djerassi wurde 1923 als Sohn eines Bulgaren und einer Österreicherin in Wien geboren. 1928 ließen sich seine Eltern scheiden, neun Jahre später floh Djerassi mit seiner Mutter vor den Nationalsozialisten über Bulgarien nach Amerika. Dort studierte er Chemie. Zu Beginn der 1950er Jahre gelang es ihm gemeinsam mit Luis E. Miramontes und Georg Rosenkranz das weibliche Sexualhormon Norethisteron künstlich herzustellen. 1951 stellte er die erste Synthese eines oralen Verhütungsmittels her. Ab 1959 lehrte Djerassi an der Stanford-University.

Er wurde jahrelang als Kandidat für den Chemienobelpreis gehandelt. Für seine Forschungstätigkeit wurde er mit zahlreichen wissenschaftlichen Auszeichnungen und 34 Ehrendoktoraten geehrt.

In den 1980er Jahren schloss er sein Labor und begann Literatur zu schreiben. Er veröffentlichte elf Theaterstücke, fünf Romane (u.a. Cantors Dilemma, Das Bourbaki Gambit) und Sachbücher, dazu drei Autobiographien (u.a. Die Mutter der Pille, Der Schattensammler).

Seit 1997 beschäftigte sich Djerassi vor allem mit Bühnenwerken. Das Theaterstück „Unbefleckt“ wurde in 12 Sprachen übersetzt, sein zweites in Zusammenarbeit mit Roald Hoffmann entstandenes Bühnenwerk „Oxygen“, in 18 Sprachen.

Carl Djerassi ist am 30. Januar 2015 in San Francisco einem Krebsleiden erlegen.

Info

Mehr zu Carl Djerassi gibt es unter www.djerassi.com

Video von uni.tv ansehen:

Foto: Sebastian Bender
Veröffentlicht am 2. Februar 2015

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