Literatur auf Klassenfahrt

Literatur auf Klassenfahrt

Wie organisiert man eine Lesung in einer Kirche? Wie kommt man als junge Poetin dazu, seine Texte mit Lockenwickler im Haar vorzulesen? Die Sätzlinge holen Texte aus der Stadt in die Stadt. uniCROSS hat bei den Organisatoren Nathalie und Mario nachgefragt.

Sätzlinge ist ein Literatur-Format des Literaturbüros Freiburg, bei dem noch unbekannte Poeten ihre Texte an außergewöhnlichen Orten präsentieren können. Jede Ausgabe erkundet drei Locations in einem Stadtteil Freiburgs. Und die Zuschauer entdecken so Winkel von Freiburg, die sie sonst vielleicht nie zu sehen bekommen würden.

Eine Lesung ist normalerweise an einen einzigen Ort gebunden. Was ist der Gedanke hinter der Stadtteil-Wanderung?

Mario: Die Stadt ist neben der Literatur der zweite Hauptdarsteller der Veranstaltung. Wir wollen raus aus den klassischen Institutionen, die Literatur präsentieren. Wir bringen Texte aus der Stadt wieder in die Stadt.

Nathalie: Unsere mit Setzlingen vom Blumenladen geschmückte erste Wanderung fand im Mai 2013 im Stühlinger statt, weil wir damals fanden: Das ist der urbanste Stadtteil Freiburgs und wir wollen eine urbane Literaturveranstaltung machen. Eine andere Grundidee ist, den Stadtteilbewohnerinnen und -bewohnern auch ihr Viertel nochmal aus einem anderen Blickwinkel zu zeigen. Einmal waren zwei ältere Damen im Publikum, die meinten: „Es gibt garantiert keinen Ort, den wir noch nicht kennen in unserem Viertel“. Am Ende des Abends mussten sie zugeben, dass sie sich getäuscht hatten. Außerdem ist so eine Wanderung auch immer eine super Gelegenheit, sich über das eben Gehörte auszutauschen. Eine besondere Stimmung entsteht: Es hat ein bisschen was von einer Klassenfahrt.

Wie wählt Ihr die Texte aus, die einen Abend formen dürfen?

Mario: Das ist tatsächlich der schwerste Teil der Veranstaltung. Da gibt es keinen Kriterien-Katalog! Ein Text darf nicht langweilen, meinte Reich-Ranicki einmal. Er muss gefallen und zum Denken anregen. Zumal, wenn er vorgelesen wird.

Nathalie: Auf die Vorlese-Performance haben wir ein Augenmerk gelegt. Die eingeladenen Sätzlinge bekommen vorab ein Sprechtraining von einer professionellen Schauspielerin und haben so auch die Möglichkeit ihre Stimme und die eigenen Texte nochmal neu zu verstehen …

Wie wählt Ihr die Locations aus, an denen die Sätzlinge ihre Texte vortragen?

Nathalie: Das ist richtige Recherchearbeit! Wir ziehen durch das jeweilige Stadtviertel und lassen unsere Gedanken kreisen: Welche Orte sind interessant? Welcher Ort unterstützt diesen oder jenen Text besonders gut?

Mario: Einmal hatten wir eine Autorin, deren Text einen absurden Flugzeugabsturz thematisierte. Ihre Erzählung bestand nur aus absurden Ansagen aus dem Cockpit, die schnell das Gefühl des Ausgeliefertseins hochkommen ließen. Wir haben uns dann gefragt, welches Setting diesem Text zu geben wäre. Letztlich hat sie ihren Text von der Kanzel der Melanchthon-Kirche in Haslach, man könnte sagen:„heruntergepredigt“. Das kam dann auch wie aus einem isolierten Raum und das Kirchenschiff mit seinem Mittelgang war irgendwie das Flugzeug aus dem Text.

Nathalie: Allgemein waren bisher alle unsere Gastgeber wunderbar kooperativ. Einmal hat eine Frisörin ihren Laden für uns am Abend geöffnet. Die Autorin hatte irgendwann Lockenwickler im Haar.

Wer kann bei Euch mitmachen?

Mario: Grundsätzlich jeder. Zuerst machen wir eine öffentliche Ausschreibung und hängen „Texte gesucht“ – Plakate an der Uni, in Cafés und Buchhandlungen auf. Dann kann uns jeder, der will, Texte über unsere Webseite www.saetzlinge.de zusenden. Bei den Texten, die wir zugesendet bekommen, ist von der abstraktesten Lyrik über Prosa bis zum klassischen Slam-Text alles dabei.

Nathalie: Sogar auch ein Theaterstück. Das werden die Zuschauer bei unserer nächsten Veranstaltung am 24. Januar – natürlich stark gekürzt – zu sehen bekommen. Wir freuen uns über ein breites Spektrum an Literatur-Einsendungen von Autorinnen und Autoren jeden Alters. Das einzige Kriterium ist, das sagt schon der Name der Veranstaltung, dass die Vortragenden am Anfang ihrer Karriere stehen. Manche Schreibenden wurden anschließend auch schon für andere Veranstaltungen angefragt, so etwas freut uns natürlich immer.

Wie ist die Idee zu Sätzlinge entstanden?

Mario: Das war bei einer praktischen Übung zur Kulturvermittlung. Diese war eine Kooperation zwischen dem Deutschen Seminar der Uni Freiburg und dem Literaturbüro Freiburg und unsere Aufgabe war es, ein Konzept für eine Veranstaltung zu entwerfen und es umzusetzen. Als wir dann mit der Premiere großen Erfolg hatten, dachten wir: Warum nicht ein Reihe daraus machen? Jetzt stehen wir vor der zehnten Veranstaltung! Damals waren wir noch zu viert im Team, aber zwei von uns sind inzwischen in andere Städte ausgeflogen.

Wie finanziert ihr die Veranstaltungen?

Nathalie: An so einem Abend hängt sehr viel dran: Honorare für die Schauspielerin, den Fotografen und den Musikgast. Hinzu kommen Druckkosten für Flyer, Plakate und das Textbüchlein, das ein Willkommens-Geschenk für jeden Gast ist, außerdem erhalten auch die Projektleiter und Projektleiterinnen ein bescheidenes Honorar. Seit zwei Jahren sind wir in der komfortablen Situation, vom Innovationsfonds Kunst des Landes Baden-Württemberg und vom Innovationsfonds Stadtteilkultur des Kulturamtes der Stadt Freiburg gefördert zu werden – ein Privileg, das bald wieder neu ausgehandelt werden muss.

Mario: Zudem unterstützt uns das Studierendenwerk mit Technik und Werbung.

Wer ist denn Euer Publikum bei der Lesewanderung?

Nathalie: Hauptsächlich sind es junge Leute, aber nicht nur. Einmal hatten wir auch eine Rentnerin mit einem Text am Start. Da war der Altersdurchschnitt etwas höher.

Mario: Neben einer Reihe von Wiederholungstätern freut es uns sehr, immer wieder auch frische Gesichter in den Reihen zu sehen.

Info

Die nächste Lesewanderung findet am Sonntag, 24.1.2016, um 15 Uhr in Zähringen statt. Startort ist der “Pausenraum”, Burgdorfer Weg 19.

Karten gibt es nur an der Abendkasse, können aber im Literaturbüro unter 0761/ 28 99 89 reserviert werden.

Weitere Infos unter: www.saetzlinge.de

Mario Willersinn hat Romanistik, Neuere Deutsche Literatur und Europäische Ethnologie in Freiburg, München und Salamanca studiert. Neben „Sätzlinge“ kuratiert er auch den „Freileser“ am Literaturbüro und arbeitet zudem im Kulturamt der Stadt Freiburg.

Nathalie Knors hat Soziologie, Deutsche Literaturwissenschaft und Psychologie an der Uni Gießen studiert und arbeitet neben den Reihen “Sätzlinge” und “Heimatkunde” im Literaturbüro Freiburg bei diversen Produktionen am Theater Freiburg in der Dramaturgie mit, zuletzt in “Die Möwe”, derzeit im Stadtraum-Projekt “Morgen auf der Datenfarm”. Außerdem arbeitet sie im Hochschuldidaktikzentrum der Uni Freiburg.

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Lena war auf der Lesewanderung in der Wiehre dabei. Ihre Reportage findet ihr unter Literatur im Diskolicht

Foto: Veranstalter
Autoren:
Veröffentlicht am 19. Januar 2016

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