Gefangen im eigenen Talent

Gefangen im eigenen Talent

Alle. Wirklich alle bei uniFM sind verhindert als Peter Doherty, Sänger von The Libertines und Babyshambles, live in Colmar spielt. Ich horche sofort auf als der Name fallen gelassen wird. Ob ich Lust hätte hinzugehen? Natürlich! Und so mache ich mich, Tutorin in der Online-Redaktion, im Namen von uniFM auf den Weg zum Foire aux Vins nach Colmar.

„Everywhere I Go People Say / ‚Who Is That Funny Guy’?‘”

Von rasenden Mengen hat man gehört, die nach stundenlangen Auftritten der Libertines die Bühnen stürmten, Peter Doherty und sein Freund Carl Barât spielten trotzdem weiter, eins mit der ekstatischen Crowd. Auf der Messe Foire aux Vins in Colmar ist der kleine Stehbereich vor der Bühne gerade mal zu drei Vierteln gefüllt. Nur die ersten vier, fünf Reihen scheinen aus wirklichen Fans zu bestehen. Die Tribünen mit den Sitzplätzen hingegen sind fast voll besetzt – vor allem mit Familien. Es ist ein kurzes Konzert, vor halbherzigem Publikum mit halbherziger Performance. Doherty soll seit letztem Jahr clean sein, so clean wie es geht, wenn man regelmäßig an einem weißen Plastikbecher nippt, in den zweifellos etwas Stärkeres als Apfelschorle abgefüllt wurde. Etwas unsicher steht er in leuchtend weißen Turnschuhen vor dem Publikum.

„The Truth Is I’m Ruthless / I Can’t Be Contained“

Und doch: Er sieht besser aus als erwartet. Klar, älter ist er geworden und seine angegraute Frisur scheint er sich auch mit der Küchenschere selbst geschnitten zu haben, aber die Kilos die er auf aktuelleren Fotos in den Medien zu viel hatte, sind vor seinem Auftritt in Colmar zum Großteil schon wieder verschwunden.

„Ich habe mehr von ihm erwartet“, lässt eine schwarzgekleidete Journalistin nach dem Konzert im geräumigen Pressezelt verlauten. Hier warten ein knappes Dutzend Journalisten, auf eine Pressekonferenz, die Doherty nach seinem Konzert geben wird. Zu viel Erfahrung hätte sie, als das ihr seine Ausbrecher aus dem Korsett des Taktes und verschiedene Fehlgriffe im Ton nicht auffallen würden. Ein zu erfahrener Künstler sei er, um sich so etwas zu leisten. Aber klar, ein Genie sei er, keine Frage.

„He Was Covered In Scars And Full Of Heroin“

Und ein Genie ist er. Schon als Teenager wurden seine Texte gewürdigt und gelobt, erst von Poesiekritikern, später von jenen, die sich mit Indie-Rock beschäftigten. Alle anderen beschäftigen sich lieber mit seinem Privatleben: Das berühmt–berüchtigte MTV Interview, seine Drogenprobleme, Kate Moss und Amy Winehouse. All das wurde heiß diskutiert, von Boulevardblättern und –websites, breitgetreten von Journalisten, die sich zu Hobbypsychologen aufschwangen.

Wer aber über den Tellerrand hinaus blickt, merkt, Peter Doherty ist nicht nur ein talentierter Dichter und Musiker – diese Kunst ist etwas, das ihm im Innersten ausmacht. Wer an Schicksal glaubt, mag es Bestimmung nennen. Er kann nicht einfach aufhören Songs zu schreiben und sie auch live zu performen: “I don’t enjoy it. But I have to do it because it’s in my blood, it’s in my soul, it’s who I am“, sagte er im Interview mit dem online Musikmagazin NME im Juni 2016.  Sein Talent führt in eine Welt, der Doherty anscheinend nur im Rausch begegnen kann. Denn das ist die andere Seite seiner Persönlichkeit, die scheinbar so oft mit außergewöhnlichen Talenten einhergeht: eine sanfte Seele, die keinen Platz in dieser harten Welt findet, manchmal sogar an ihr zerbricht. Soviel zu Hobbypsychologen.

Als Doherty nach dem Konzert den Pressebereich betritt, bricht leichte Hektik aus. Journalisten setzen sich im Halbkreis dem schwarzen Ledersofa gegenüber, auf dass sich Doherty niedergelassen hat. Leicht wirre Antworten folgen auf die journalistischen Fragen. Doch seine Aussagen zeigen unverkennbar dass dort ein zwar betrunkener, aber sehr intelligenter Mensch sitzt, der leicht gelangweilt und gleichzeitig desorientiert wirkt, wie zuvor auf der Bühne.

„Oh I Never Saw A Man / Who Looked With Such A Wistful Eye“

Aber eben die Unfreiwilligkeit seines Talents, durch das er überhaupt in die Situation gekommen ist, Pressekonferenzen geben zu müssen, macht es einem leicht, ihm solche Unprofessionalitäten zu verzeihen. Das – und sein Charme, der von seinen schiefen Zähnen und seiner (nach-) lässigen Art getragen wird und einem sofort klar macht, wieso auch Supermodel Kate Moss ihm nicht widerstehen konnte.

„Oh I like that song!“, sagt Doherty nach einer knappen Viertelstunde in der Pressekonferenz. Aus der Entfernung hört man Louise Attaque, eine französische Band, die nun die Bühne übernommen hat. Der Stehbereich ist voll, niemanden hält es auf seinem Platz, die Menge jubelt, schreit, singt mit. So wie es Peter Doherty verdient hätte.

 Audio

Hier könnt ihr euch noch einmal den Radiobeitrag mit Ausschnitten aus der Pressekonferenz anhören.

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Info

Peter Doherty bringt im Herbst 2016 sein zweites Solo-Album nach Grace/Wastelands (2009) heraus. Die erste Single  „The Whole World Is Our Playground“ erschien im April 2016.

Zwischenüberschriften stammen aus “Sweet By And By”, “I Am The Rain”, “Sheepskin Tearaway” und “Broken Love Song” von Peter Dohertys Album ‘Grace/Wastelands’.

Zitatquelle: nme.com

Fotos: Ragna Plaehn
Autoren:
Veröffentlicht am 7. September 2016

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