Schritt für Schritt, Satz für Satz

Schritt für Schritt, Satz für Satz

Zwischen roten Türen, gelben Wänden und blauen Säulen stehen um die 40 Personen und warten. Die Bruchstücke von Unterhaltungen hinterlassen ein summendes Geräusch in den Ohren. uniCROSS war bei der elften, vom Literaturbüro organisierten, Veranstaltung „Sätzlinge“ dabei.

Die Lesewanderung findet dieses Mal im Stadtteil Landwasser statt. Die bunten Räume gehören zum Haus der Begegnung, wo der Großteil der Quartiersarbeit stattfindet. Als Mario Willersinn, einer der Veranstalter des Abends, fragt, wer zum ersten Mal dabei ist, heben fast alle Anwesenden die Hände. Er erklärt den neugierigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern den Ablauf der Veranstaltung. Leider muss heute am Ende der Lesewanderung der Auftritt des Jazz-Pop-Folk Duos „Virulent & Disponibel“ krankheitsbedingt ausfallen.

Auf der imaginären Bühne, die durch die Grenze zwischen den Zuhörerenden und dem ins Mikro-sprechenden Willersinn markiert ist, tauchen die drei Autoren und Autorinnen auf, die an diesem Abend ihre literarischen Werke vorstellen werden. Schnell wird klar: Nicht nur das Alter dieser ist sehr unterschiedlich, auch ihre Erzählthemen.

Aus einem Uni-Seminar entstanden

Das Projekt „Sätzlinge“ gibt es schon seit 2013 und entstand aus einer Kooperation zwischen dem deutschen Seminar und dem Literaturbüro, das seinen Sitz in der Wiehre hat. Im Projekt geht es darum, literarische Texte zurück in die Räume der Stadt zu bringen. Literatur soll, so die Veranstalter und Veranstalterinnen, nicht nur in kulturellen Zentren stattfinden, sondern an alltägliche Orte gebracht werden. Gleichzeitig können die Teilnehmenden unbekannte Ecken der Stadt entdecken. Dafür sucht sich das Literaturbüro immer neue Stadtteile und unauffällige Räumlichkeiten aus, die eine Verbindung zu der vorgelesenen Literatur aufzeigen.

Wer als Autor oder Autorin dort auftreten möchte, kann dem Literaturbüro einen selbstgeschriebenen Text zuschicken. Dieses wählt dann drei der eingeschickten Texte aus. Mitmachen kann im Grunde jeder. Voraussetzung ist, dass die Literatur von den Schreibenden noch nicht publiziert wurde.

Wir laufen los. Draußen ist es dunkel und neblig. Das angehäufte Laub, auf das wir treten, raschelt. Es ist 19.30 Uhr und ein herbstlicher, düsterer Abend. Gelegentlich gehen wir durch gut beleuchtete Straßen, um dann wieder durch dunkle Waldstücke zu laufen. Die Autos und Tankstellen, die durch die Bäume zu erkennen sind, zeigen eine absurde Mischung aus Poesie und urbanem Leben – eine skurrile Symbiose aus Stadt und Natur.

Kurz bevor das Gefühl entsteht, wir hätten uns in einer suburbanen Wohnsiedlung verirrt, in der sich, wie wir später erfahren, die zwei modernen Hochhäuser „Max und Moritz“ befinden, werden wir ins unterste Stockwerk eines Gebäudes geführt. Ulla Bonczek, eine Bewohnerin und ehrenamtliche Mitarbeiterin des Wohnviertels, erzählt, dass dies die Gemeinschaftsräume der Wirthstraße seien. So viele Hochhäuser in einer Straße kennt man in Freiburg sonst nur aus Weingarten.

Wir treten in einen Raum mit etwa 15 Quadratmetern. Tische und Stühle werden hin und hergeschoben, damit für die 40 Menschen Platz entsteht. „Es wird kuschelig“, sagt jemand in der hintersten Reihe. An der Decke hängen bunte Luftballons, an den Wänden Plakate mit grammatikalischen Regeln, die auf einen improvisierten Deutschunterricht hinweisen. In diesen Gebäuden wohnen Menschen aus über zehn Nationen.

Im Gemeinschaftsraum der Wirthstraße wird es leise und die erste Autorin, Sylvia Schmieder, liest vor. Schmieder ist Journalistin und widmet sich jetzt dem literarischen Schreiben. In ihrem Roman geht es um ein rätselhaftes Wesen, das verschiedene Formen annehmen kann. Schmieder schildert diese Dynamik in einer sehr sinnlichen Sprache. „Die wirkliche Identität des Wesens, das sich an andere Lebewesen und Gegenstände anpassen kann, ist ein bewusstes Geheimnis“, erklärt Schmieder nach der Lektüre.

So ähnlich ist auch die Situation in Landwasser zu interpretieren. Menschen aus verschiedenen Orten und Nationen müssen sich an die engen Räumlichkeiten eines urbanen Wohnviertels anpassen.

Ungehörte Texte und viel Potenzial

Dann geht es wieder raus aus dem engen Gemeinschaftsraum und wir laufen auf einen Park zu, der gefühlt die Größe eines Waldes hat. Der zweite Ort an dem heute vorgelesen wird, sieht spektakulärer aus, als der vorherige. Dabei sind es hauptsächlich die Kerzen, die wie kleine Fackeln um einen Gleichgewichtsparkur gestellt sind und die intensive, uns umgebende Dunkelheit, welche eine bezaubernde Atmosphäre erzeugen.

An diesem Ort liest der 17­-Jährige Merlin Krzemien seine Kurzgeschichte vor, bei der es um einen jungen Pubertierenden und seine Hündin Dora beim Spaziergang geht. Doch ist es kein harmonisches Gassi-Gehen, das der Erzähler beschreibt. Vielmehr schildert und begründet der Protagonist mit hasserfülltem Ton die für ihn lästige Existenz seiner Hündin Dora.

Das Ganze endet in einer eskalierenden blutigen Schlacht zwischen dem Hauptdarsteller und seinem Haustier. Humorvoll und absurd ist Merlins Kurzgeschichte, die auch gut in einer Poetry-Slam-Veranstaltung vorgelesen werden könnte.

Der letzte Ort schließt den Kreis der Wanderung und liegt wenige Hundert Meter vom Ausgangspunkt unserer Lesewanderung entfernt: Es ist der sogenannte „Weltraum“ der Albert-Schweitzer-Schule. Davor roch alles nach Kälte und jetzt nach neuen Büchern. Die Pupillen müssen sich nach der Dunkelheit wieder an das grelle Licht gewöhnen, um den gemütlichen Raum mit seinen vielen bunten Kissen auf dem Boden wahrzunehmen.

Weltkarten und Heimatgefühle sind von Kindern kunstvoll an die Wand gemalt worden. Lisa Müller, Kinder- und Jugendpsychologin, liest ihre Kurzgeschichte vor. Der Protagonist, Kažimír Stolný, ist ein Junge, der in einer polnischen Kleinstadt aufwächst und sich entgegen der Tradition seiner Arbeiter-Familie, dazu entscheidet, Architekt zu werden. Eine nette Kindergeschichte, in der es um die Realisierung von Träumen geht.

Wir kehren zurück in das Haus der Begegnung und lassen den Abend mit Getränken und Snacks ausklingen. Ein Herr lehnt an der Bar und sagt mit tiefster Demut zum Theker: „Ich habe heute wirklich schöne Geschichten gehört und weiß jetzt auch, weshalb mein Text nicht ausgewählt wurde.“

Leider können nicht alle Underground-Schriftsteller und Schriftstellerinnen bei solch einer Veranstaltung zu Wort kommen, aber das Literaturbüro bietet eine Entfaltungsplattform für bisher ungehörte Stimmen und verstecktes Potenzial, die sonst in anderen Orten nicht gegeben wird.

Infos

Die Sätzlinge bieten vier Mal im Jahr eine Lesewanderung an und zweimal im Jahr können sich unbekannte Autoren und Autorinnen mit ihren Texten bewerben. Die nächste Ausschreibung findet im Frühjahr 2017 statt.

 Weitere Informationen über die Veranstaltungsreihe findet ihr unter:

www.saetzlinge.de

www.facebook.com/saetzlinge

www.literaturbuero-freiburg.de

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Foto: Vanessa Nicklaus
Veröffentlicht am 6. Dezember 2016

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