Alles halb so wild?!

Alles halb so wild?!

Ein Erasmussemester erzeugt die wildesten Gefühlskollisionen. Zwischen Vorfreude auf das Unbekannte und dem Trennungsschmerz von der altbekannten Bequemlichkeit konnte ich mich kaum entscheiden ob ich es denn tatsächlich wagen wollte oder ob das Ganze nicht doch eine völlig wahnwitzige Idee war.

Was habe ich mir nur dabei gedacht? Vor sechs Monaten hat alles noch so viel Sinn gemacht: Ein Erasmussemester in Dundee, Schottland. Ein wunderschönes Land mit den freundlichsten Menschen, die ich (in einem vorangegangenen Urlaub) je kennengelernt hatte und eine tolle Möglichkeit meine Englischkenntnisse aufzupolieren. Klingt perfekt und schließlich hört man ja nur Gutes von seinen Freunden, die schon abenteuerlustig genug waren um den Schritt nach dem Abitur ins Ausland zu machen, sei es Work and Travel in Australien oder ein Jahr als Au Pair in Amerika: Alle berichten voller Nostalgie von ihren faszinierenden Begegnungen und aufregenden Erfahrungen.

Aber Zuhause ist es doch am schönsten!

Und nun hatte ich mich auch für ein Erasmussemester im fernen Schottland entschieden. Einen großen Kulturschock würde ich wohl nicht zu erwarten haben. Und trotzdem, zwei Wochen vor der Abfahrt stelle ich mir die Frage: Wieso tue ich mir das an? Mein gesamtes Leben für ein halbes Jahr im Stich zu lassen? Alle meine Freunde sind hier und sowieso, läuft nicht gerade mal alles gut im Vergleich zu meinem sonstigen Chaos, zwischen Deadlines für Essays die ich aus dem Auge verloren habe und Prüfungsanmeldungen die im HISinONE Dschungel verschwunden sind?

Ja, im Moment ist Freiburg eindeutig ‘the place to be’ – und doch, ein Rückzieher geht nicht mehr, schließlich ist das WG Zimmer untervermietet, der Flug und das Hostel gebucht und Wohnungsbesichtigungen in der neuen Heimat verabredet. Von allen Seiten höre ich “Das wird ganz toll!” und “Du wirst so viel erleben, das halbe Jahr geht  schnell um.” Schön und gut, ihr habt sicher recht… Schließlich reise ich in das Land in dem (höchstwahrscheinlich) Hogwarts liegt, dessen Nationaltier das Einhorn ist (kein Scherz) und das in den Tiefen seiner Lochs urzeitliche Monster beherbergt.

Ich würde mich nicht wundern wenn plötzlich ein paar Hogwartsschüler auf Besen über den Loch Lomond fliegen würden.

Allein, allein

Wie es üblich ist, wenn man einem Zeitpunkt mit Nervosität entgegenblickt, brechen scheinbar große Brocken Zeit auf einmal ab: Plötzlich stehe ich am Flughafen und muss mich von meinem Vater verabschieden, durch die Sicherheitskontrolle (nein, ich schmuggel keine Nagelfeile in meiner linken Socke) und dann sitze ich erst im Flieger und scheinbar nur Momente später in einem spartanisch eingerichteten Hostelzimmer.

Dort verbringe ich meine erste Woche um nach einer WG zu suchen, da die Wohnheime in Dundee, und in Schottland allgemein, aus unerfindlichen Gründen unglaublich teuer sind, für ein zehn Quadratmeter ‘großes’ Zimmer muss man mindestens 500 Pfund einrechnen (das entspricht circa 585 Euro).

Ich fühle mich weder “ganz toll” noch ging die Zeit “schnell um”. Im Gegenteil. Ich bin allein in einer unbekannten Stadt und habe keine Idee was ich tun soll. Und wieder kommt die Fragen: Wieso habe ich das nur getan?

Vorsichtiger Optimismus

Doch dann kommt die Rettung in Form von Jane. Sie ist die Freundin eines Freundes eines Freundes. Natürlich. Wie die meisten Schotten die ich kennenlerne ist sie wirklich interessiert an mir und anscheinend an allem was ich zu sagen habe. Sie zeigt mir die Stadt. Dundee ist, wie Freiburg, eine kleine Großstadt, mit ungefähr 148.000 Einwohnern. Ich sehe viel Kopfsteinpflaster, alte Häuser und eine wilde Mischung aus alteingesessenen Pubs und jungen Cafès und Bars, in denen man denselben Hipstersocken mit aufgedruckten Ananas begegnet wie im Stühlinger.

Und nachdem ich nach einer Woche im Hostel endlich in eine WG umgezogen bin erscheint ein zweiter Silberstreif am Horizont. Meine Mitbewohnerin Sarah, die auch gerade erst von England nach Schottland gekommen ist um einen neuen Job anzufangen, kann genau dieselben Dinge über Einsamkeit und Heimweh berichten, die seit meiner Ankunft in meinem Kopf rotieren. Da passiert es das erste Mal: Genau diese Gefühle rücken immer mehr in den Hintergrund. Und auch wenn sie noch nicht ganz verschwunden sind, wird mir klarer: Diese Monate können ganz toll werden und fast hoffe ich schon, dass es gar nicht so schnell vorbei ist. Alles also halb so wild.

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Fotos: Farina Kremer
Autoren:
Veröffentlicht am 15. Februar 2017

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