Der reisende Geduldsfaden

Der reisende Geduldsfaden

Ob vorlesungsfreie Zeit, die Osterfeiertage oder die Tatsache, dass die meisten Hausarbeiten und Klausurtermine endlich vorbei sind: Es ist wieder Reisezeit. Doch haben wir seit unserer letzten Reise vielleicht etwas verdrängt? Ich packe meinen Koffer und nehme mit: Ein paar Nervensägen, einen gerissenen Geduldsfaden und eine große Portion Rücksichtslosigkeit.

In sozialen Netzwerken floriert die florale Botanik fremder Regionen, Berggipfel, Sonnenuntergänge über dem Meer und fernöstliche Tempelbauten haben Hochkonjunktur – die Urlaubssaison ist zurück. Wenn man genauer darüber nachdenkt, war sie eigentlich nie wirklich weg. Weihnachtsshopping in Paris, London, New York, in Thailand mit einem Cocktail auf den in der Heimat tobenden Weihnachtsstress anstoßen, Silvester in Dubai, über die Fastnachtszeit noch ein letztes Mal die Skipisten unsicher machen und nach einem zermürbend langen März ohne Feiertage ist sie endlich zurück, die Zeit der langen Wochenenden und Saison der Last-Minute-Schnäppchenjäger und minutiös planenden Frühbucher. Reisen ist heute so günstig wie nie zuvor und was bleibt, sind wundervolle Erinnerungen an einmalige Erlebnisse, fremde Kulturen und beeindruckende Anekdoten für alle Daheimgebliebenen.

Das zumindest scheint die einzig plausible Erklärung dafür zu sein, dass wir jedes Mal erneut unsere Kniescheiben in Fernbussen, Zügen und Flugzeugen in die Lehne des Vordermannes bohren, während wir Stoßgebete gen Himmel schicken, dass Fahrer, Lokführer und Pilot ausgeschlafen sind und auf engstem Raum mit oft unangenehm riechenden Grippeinfizierten oder sonst wie Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Wildfremden durch die Weltgeschichte gondeln.

Früher war alles besser?!

Mit stilvollen und stressfreien Bahnreisen wie in Liebesgrüße aus Moskau mit dem unwiderstehlichen Sean Connery oder Geschichten um den legendären Orient-Express haben die zwar abenteuerlichen aber keinesfalls luxuriösen Reisen heute nichts mehr gemein. Noble Speisewagen, in denen man mehrgängige Menüs exquisiter Köche von Meißner Porzellan tafelte, das Zugpersonal beim Ein- und Ausladen von Gepäckstücken behilflich war und Musiker für Stimmung sorgten, gehören längst vergangenen Zeiten an. Stattdessen wird das Erreichen des gewünschten Ziels dank genuschelter oder gänzlich vergessener Durchsagen des Zugpersonals und defekter Anzeigetafeln zum Glückspiel, ratternde Hackenporsche machen bei jedem einzelnen unserer Schritte Jagd auf die eigene Achillesferse und der Kaffee wird vorzugsweise im Pappbecher serviert.

Lediglich die Musik konnte sich in das neue Jahrtausend hinüberretten – wenn auch mit gewissen Variationen. So findet sich auch heute auf jeder Reise mindestens ein Passagier, dessen Smartphone die neusten Gangster Rap Beats zum Besten gibt. Besonders ärgerlich wird es allerdings, wenn diese Darbietung von jenen gestört wird, die die Gunst der fünfstündigen Reise dazu nutzen, das Verzeichnis ihrer Kontakte durchzutelefonieren. Dadurch erschweren sie es einem, dem Assoziationsspiel zu tödlichen Krankheiten und ihren Symptomen des Jahrgangsausflugs drei Reihen weiter zu folgen, während eine gemischte Gruppe Mitfünfziger ihre Kreativität bei ihrem Schlagabtausch doppeldeutiger, frauenfeindlicher Witze durch eine weitere Flasche zuckersüßen Hugos anzuregen versucht.

Dass diese überschäumende Stimmung auch den vier Jahre alten Sönke nicht mehr länger auf seinem Hosenboden sitzen und rhythmisch zum Gangster Beat gegen die Rückseite des Sitzes treten lässt, ist sicherlich verständlich. Gleichwohl versteht es sich von selbst, dass dieses Zuwiderhandeln des Nachwuchses nach einer im Minutentakt wiederholten Erläuterung der dadurch entstehenden Gefahren, ganz im Sinne pädagogischer Lehrbücher, durch die Eltern verlangt. Zum Glück ist seine Schwester derweil damit beschäftigt, ihre Imitation des pfeifenden Whats-App Tones der jungen Frau ein paar Sitzreihen weiter, die in eine angeregte Diskussion verstrickt zu sein scheint, in ihre lautstarke Aneinanderreihung von Kinderliedern zu integrieren, stetig auf der Suche nach dem hohen C.

„Eine ungeheuerliche Frechheit ist das!“

Die Verzweiflung über die vergessenen Kopfhörer wiegt schwer, als das Zugpersonal eine Verspätung von fünf Minuten über die Lautsprecher bekannt gibt – bei der jedoch alle Anschlüsse erreicht werden. Grund genug für eine wagonweite Debatte über die mangelnde Rücksichtnahme gegenüber Reisenden von Seiten des Unternehmens, die schließlich durch das berühmte „Sänk you for träwelling wif …“ unterbrochen wird und es einem ermöglicht, sich an Einstiegsdrängler und Sitzplatzquengler vorbei auf den Bahnsteig zu kämpfen – glücklich über die Fähigkeit unseres Gehirns, Erinnerungen an traumatische Ereignisse zu löschen, denn die nächste Reise kommt bestimmt.

Samantha Happ findet wunderliche Dinge bemerkenswert und tut dies in ihrer Kolumne “Mein Senf” kund.

Samantha Happ findet wunderliche Dinge bemerkenswert und schreibt in ihrer Kolumne “Mein Senf” darüber.

 

 

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Foto: Samantha Happ
Autoren:
Veröffentlicht am 25. April 2017

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