Wenn die Massen in Badekleidung, Strohhüten und Sandalen an einem vorbeiziehen, die Übergangsjacke vor Freude die Ärmel in die Luft reißt und die Dermatologen mahnend den Zeigefinger in Richtung Sonnencreme heben: Dann ist die Zeit gekommen, sich wie ein nasser Hund zu schütteln und Seele, Körper und Geist von den Staubschichten finsterer Wintertage zu befreien. Auch Samantha hat den Staubschichten den Kampf angesagt.
Jedes Frühjahr rücken wir dem Schwarzweißfilter auf unseren Fensterscheiben mit Feudel und Putzfetzen zu Leibe, wie einem Wasserfarbkasten nach einer Malorgie mit schlecht ausgewaschenen Pinseln, um diesen von ihrem Grauschleier zu befreien und endlich wieder einen Durchblick zu bekommen. Dass ausgerechnet der Schmutz, der sich durch unterbewusste Unzufriedenheiten und Krisen von kulturrevolutionärem Ausmaß auf unserer Seele ansammelt, häufig Auslöser für expressionistische Putzattacken zu teils unchristlichen Abend- und Nachtzeiten ist, braucht an dieser Stelle sicherlich nicht unter den Teppich gekehrt zu werden.
Die Ambivalenz der Ordnung
Die Wohnung als Spiegel der inneren Verfassung in Literatur und Film hat sich längst als indexikalisches Zeichen in unser Bewusstsein eingebrannt und verfolgt uns unterschwellig bei den ganz persönlichen und höchst intensiven Befreiungskämpfen von Unordnung, Nippes und seelischem Ballast. Abgedroschene Floskeln wie „Ordnung ist das halbe Leben“, „Ordnung muss sein“ oder „ein jedes Ding an seinem Ort, erspart viel Zeit und böses Wort“ stehen Ordnungskritikern gegenüber, die Ordnung als phantasieraubend, einschränkend oder Kobold kleiner Geister beschreiben – und damit nicht nur das Ansehen der Vorwerk-Vertreter beschmutzen.
Mein ganz persönlicher Wahnsinn
Dem Wunsch nach innerer und äußerer Aufgeräumtheit folgend, schlage ich mir mit Mülltüte und Staubwedel bewaffnet eine Schneise der Ordnung durch mein (Gefühls-) Leben, die mich schließlich auf der Zielgeraden geradewegs in meine ganz persönliche Kammer des Schreckens führt. Denn zu meinem Entsetzen handelt es sich dabei längst nicht mehr nur um eine unterirdische, hinter dicken Steinmauern und tropfenden Wasserhähnen verborgene Kammer in Hogwarts, die nur schwer gefunden und ausschließlich durch einen Parselmund geöffnet werden kann. Mein Kellerabteil des Schreckens, der Ursprung meiner inneren Unruhe, liegt zwar auch unter der Erde allerdings beherbergt es längst mehr, als einen magischen Schurken und riesigen Basilisken. Mit Grubenhelm und Stahlseil bewaffnet, in Begleitung eines Bernhardiners mit Fässchen um den Hals stelle ich mich schließlich meinen Dämonen:
Einem Kuriositätenkabinett aus Dekoartikeln aller Jahreszeiten neben meiner persönlichen Sammelstelle für Altglas und Pfandflaschen folgt ein repräsentativer Querschnitt durch die Modetrends vergangener Jahrzehnte, neben dem verstaubten Equipment einstiger, längst vergessener Trendsportarten und nicht zu vergessen mehreren Tonnen ausrangierten Tupperdosen von Mama: „Über die wirst du irgendwann im Leben mal noch froh sein, mein Kind, die gibt’s so nämlich nicht mehr!“
An diesem Fleck der Schande voll von Nippes, Krempel und Firlefanz, dem perfekten Schauplatz eines Psychothrillers und Albtraum eines jeden Spartaners, der sich etwa so gut verdrängen lässt wie Betonfüße vor einem Tauchgang, stelle ich mir, meinen seelischen Zustand betreffend schließlich die eine entscheidende Frage: Was war denn nun eigentlich zuerst? Henne oder Ei?
Samantha Happ findet wunderliche Dinge bemerkenswert und schreibt in ihrer Kolumne “Mein Senf” darüber.
Mehr Kolumnen von Samantha auf uniCROSS
Celebrari aude – der jubilierende Senf
Slow Food, Soul Food & Solo Food
Die Ausreden des mangelnden Bockes
Der Gleichklang von Wahl und Qual – Zufall?
Der erste Schritt in ein neues Leben führt zur Altpapiertonne
Mein postpubertäres Alter Ego und das präadultische Mini-Me
Jedem Wahnsinn seine Unordnung
Von bittersüßer Nostalgie und Freundschaft
Gegen den Strom in den Mainstream
Sind Messer heute den Schurken vorbehalten?
Foto: Samantha HappVeröffentlicht am 23. Mai 2017