Album der Woche: Big Thief – Capacity

Album der Woche: Big Thief – Capacity

Es gibt wenige Platten, bei denen man schon beim ersten Hördurchlauf weiß, dass sie einen das restliches Leben begleiten werden. Das Debut der New Yorker Band Big Thief aus dem vergangenen Jahr war für mich ein solches Album – eine überwältigend intime, autobiographische Songsammlung, die in ihrer zuweilen schmerzhaften Schonungslosigkeit lediglich mit dem jüngsten Sufjan Stevens Opus “Carrie & Lowell” vergleichbar ist.

Wie auch Stevens legt Adrianne Lenker, die Songwriterin hinter Big Thief, den Finger in offene Wunden ihrer Familienchronik. Wenn sie wie im Song “Real Love” über die Beziehung ihrer Eltern sang, führte sie den Hörer auf ganz und gar unbehagliche Pfade: “Having your face hit / Having your lip split / By the one who loves you”.

Blut und andere Formen von graphic violence gibt es auch auf dem neuen Album; Im Song “Shark Smile” endet eine liebestrunkene Autofahrt mit einem Fahrspurfehler und der Pfählung der Geliebten. Das besondere an dem Song ist jedoch nicht das einigermaßen unwahrscheinliche Thema, sondern die absurde Ton-Text-Schere, mit der der Hörer konfrontiert wird – Es gibt nur einen Song über einem Straßenverkehrsunfall mit Todesfolge (oder zumindest die Vision eines solchen), der auf ähnlich unbefangenem Pop gebettet wurde: „There Is A Light That Never Goes Out“ von den Smiths.

Womit wir endlich bei der Musik des Albums wären, die durch den naheliegenden Fokus auf Lenkers Lyrics zu oft unterbelichtet bleibt. Dabei ist die sonderbare Textur des Big Thief Sounds nicht minder würdigungswert – allem voran die Störgeräusche, die Buck Meek seiner E-Gitarre entlockt. Sie bilden das musikalische Pendant zu Lenkers emotionalen Ausbrüchen auf der Textebene. Und auch wenn es “Capacity” gelegentlich an der noisigen Lo-Fi-Ästhetik mangelt, die den Vorgänger zu einem Meisterwerk machte, bleiben Big Thief mit ihrem neusten Lebenszeichen eine angenehm-unbequeme Ausnahme im Folk-Pop-Einerlei des New Yorker Hipster-Sumpfes.

von Julian Tröndle

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Mehr zur Platte erfahrt ihr am Dienstag, 06.06.2017, ab 19 Uhr im Soundcheck 

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Veröffentlicht am 6. Juni 2017

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