Dem Alltag auf der Spur

Dem Alltag auf der Spur

Antifaschistische Skinheads, Containern, die junge AfD … Unter dem Motto „The (Un)Making of Social Categories: Case Studies in Freiburg, Germany“  haben deutsche und indonesische Ethnologie- und Politikstudierende im Juni 2017 vier Wochen lang gemeinsam Feldforschung betrieben.

Ina, Citta und Katharina (von links nach rechts) erforschten vier Wochen lang in Freiburg die nicht-faschistische Skinheadszene.

„Wir hatten uns überlegt, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Ethnologinnen und Ethnologen aus dem globalen Norden in den globalen Süden reisen, um dort ihre Forschung zu machen und vor Ort bestenfalls Assistenten oder Übersetzer einstellen. Mit unserem Lehrforschungsprojekt war klar: Wir machen das ab jetzt gemeinsam,“ erklärt die Freiburger Ethnologieprofessorin Judith Schlehe.

Schlehe hat das Projekt 2004 gemeinsam mit Ethnologiedozierenden der Gadjah Mada Universität in Yogyakarta, Java, ins Leben gerufen. Seit 2011 beteiligen sich auch die politikwissenschaftlichen Institute beider Universitäten. Damit ist das Projekt nicht nur international, sondern auch interdisziplinär. Seit 2014 ist die indonesische Hasanuddin Universität in Makassar, Sulawesi, mit im Bunde.

Reziprozität – weltweit einmalig

„Das ganz Besondere an unserem Projekt ist das Reziproke“, sagt die Professorin und spielt damit auf die Struktur des Projekts an. Dieses sieht vor, dass die teilnehmenden Studierenden in beiden Ländern forschen: Im einen Jahr in Indonesien und im anderen in Freiburg. „Das ist in der Ethnologie weltweit einmalig und darauf bin ich ungemein stolz“, berichtet sie mit leuchtenden Augen und Nachdruck in der Stimme. „Es ist mein Lieblingsprojekt, weil es das einfach sonst nirgendwo gibt.“

Professorin Judith Schlehe und einer der indonesischen Partner, Pujo Semedi.

Das Reziproke sei nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit wichtig, sondern der Perspektivwechsel biete auch einen ungemeinen Lerneffekt für die Studierenden: „Im einen Jahr nehmen sie als heimische Studierende die Rolle der Insider und im anderen als Gäste die Rolle der Outsider ein. Die Studierenden machen dabei die Erfahrung, dass für den wissenschaftlichen Erfolg nicht immer die nationale Zugehörigkeit oder der akademische Background die entscheidende Rolle spielt, sondern es auch auf das Thema ankommt.“

Outsider seien durch ihren distanzierteren Beobachterblick aufmerksamer für die alltäglichen, kulturellen und sozialen Dynamiken, dem Forschungsgegenstand der modernen Ethnologie. Aus diesem Grund suchen die Externen auch das konkrete Fallstudienthema aus.

Das Mysterium der nicht-faschistischen Skinheads

Dass diese Rechnung aufgeht, kann die junge Indonsierin Citta, bestätigen. Sie hat sich für das Thema „Nicht-faschistische Skinheads in Freiburg“ noch vor ihrer Abreise entschieden und begründet die Wahl damit: „Die Skinhead Szene entstand aus einer multikulturellen Subkultur in England, doch hier in Deutschland wird sie immer mit Rassismus in Verbindung gebracht. Das hat mich stutzig gemacht, denn die Skinheads, die ich aus Indonesien kenne, sind nicht faschistisch. Deshalb habe ich versucht herauszufinden, ob eine solche Szene auch in Deutschland existiert.“

Doch bevor sie ihrer Frage auf den Grund gehen konnte, musste sie erst einmal harte Überzeugungsarbeit leisten. Weder Professorin Schlehe noch die Freiburger Teamkolleginnen Katharina und Ina hatten von nicht-faschistischen Skinheads in Freiburg gehört. Deshalb waren die ersten Worte, die Katharina und Ina an Citta nach deren Ankunft richteten: „OK Citta, du hast das Thema ausgesucht, doch bist du dir wirklich sicher, dass es nicht-faschistische Skinheads in Freiburg gibt? Citta lachte nur und erwiderte: „Come on Girls, natürlich gibt es die, ich chatte mit ihnen auf Facebook und für nächstes Wochenende habe ich ein Treffen ausgemacht.“

Gemeinsam Leben und Forschen

In den folgenden Wochen besuchten die drei Partys, führten Interviews und chatteten mit den Szenemitgliedern. „Für mich das Eindrücklichste war die Reaktion der Menschen, wenn ich als Asiatin mit einem Skinhead die Straße entlang laufe. Ich konnte aus erster Hand erfahren, wie sie aufgrund deiner äußeren Erscheinung etwas annehmen, was du eigentlich gar nicht bist“, sagt Citta. Ina, die zum ersten Mal Feldforschung betreibt, ist besonders überrascht wie schnell man sich in ein Thema ein- und dann  in einer Gruppe zusammenarbeiten kann. Katharina ergänzt kopfnickend: „Teamforschung ist wirklich bereichernd.“ 

Alle drei sind sich einig: Die Zusammenarbeit aus Einheimischen und Nicht-Einheimischen ist die Zukunft der geisteswissenschaftlichen Feldforschung und das beste Mittel gegen Stereotype anzukämpfen und soziale Kategorisierungen verstehen zu lernen. Diese Ansicht teilt auch Professorin Schlehe. Sie sieht einen weiteren Erfolg darin, dass zwischen den Teilnehmenden oftmals lebenslange Netzwerke und Freundschaften entstehen.

Das Projekt strahlt

Trotz des großen Erfolgs endet das Projekt dieses Jahr. Die DAAD-Finanzierung läuft aus und wird nicht neu beantragt. „Das Projekt ist zu groß und zu komplex geworden“, sagt Professorin Schlehe. Deshalb planen sie und ihr Team es zukünftig in andere Formate zu bringen, in denen der Fokus wieder stärker auf den Inhalten als auf der Organisation liegt.

Die Professorin sieht das Projekt als Modell mit Strahlkraft und wünscht sich, dass es weltweit kopiert wird. Sie ist sich sicher: „Diese neue Art des Forschens im Team, gemeinsam und aus verschiedenen Positionen heraus, in wechselseitiger Aufmerksamkeit, ist zukunftsweisend.“

Info

Allgemeine Informationen und Details zu den Projektarbeiten gibt’s auf der Website der Ethnologie.

Wer mehr über die aktuelle ethnologische Forschung wissen möchte, dem seien die ethnologischen Arbeitspapiere auf der Website der Ethnologie der Uni Freiburg empfohlen.

Neugierig auf Interkulturalität, dann schaut doch mal auf der Website des Internationalen Clubs des Studierendenwerks vorbei.

Fotos: Johanna Skowronski
Autoren:
Veröffentlicht am 16. August 2017

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