Letzte Botschaften

Letzte Botschaften

Unter dem Motto „Spurensuche“ beschäftigt sich ganz Freiburg im Oktober und November 2017 mit dem 100. Jahrestag der Russischen Revolution. In der UB gibt die Ausstellung „Letzte Botschaften. Briefe von Vätern aus dem Gulag“ Einblicke in die Schattenseiten der Revolution. Annkatrin hat mit der Organisatorin Margarita Augustin über die Gulag-Hütte, die im UB-Foyer aufgestellt ist, die Briefe und über Volksfeinde gesprochen.

Margarita Augustin ist Studiengangkoordinatorin und Lehrassistentin am Kunstgeschichtlichen Institut und hat die künstlerische Leitung der Russischen Kulturtage 2017.

Frau Augustin, Sie haben die Ausstellung „Letzte Botschaften. Briefe von Vätern aus dem Gulag“ konzipiert. Im Foyer der UB wird gerade eine Holzhütte aufgebaut. Was hat es damit auf sich?

Nun, als Holzhütte würde man diese wahrscheinlich gar nicht wahrnehmen. Wir bauen eine Gefängniszelle mit den Maßen drei mal drei Metern auf, in denen in der Zeit nach der Russischen Revolution bis zu 15 Menschen untergebracht wurden.

Für die Informationen zum Gulag haben wir eine Extra-Infobox gebaut, damit die Zelle ganz für sich wirken kann. Die Betrachtenden sollen merken, dass es hier um etwas Düsteres, Unangenehmes und vielleicht Unverständliches geht. Das soll eine Anregung sein, einfach mal reinzuschauen.

In der Hütte gibt es auch einen Film zu sehen.

In der Hütte wird ein Film laufen, den das Zwetajewa-Zentrum produziert hat. Im Film werden vier unabhängige Einzelschicksale von Vätern erzählt, die damals in Arbeitslagern inhaftiert wurden. Anfangs hatten wir überlegt, die Briefe in Form einer Dia-Show mit Übersetzungen zu zeigen. Dann kam mir der Gedanke, das Ganze digital in Form eines Films darzustellen.

Gemeinsam mit der Freiburger Künstlerin Olga Makarova habe ich diese Idee umgesetzt: Zwei Schauspieler vom Theater im Marienbad lesen die Briefe und Geschichten dieser Väter vor und ein Musikstudent aus Münster, Artemij Kosarev, hat die Musik dazu geschrieben. Ich hoffe, dass die Texte durch diese besondere mediale Vermittlung den Besucherinnen und Besuchern näherkommen und sie sich auch emotional mit dem Thema auseinandersetzen.

Abgesehen von dem Film werden wir auch Gegenstände von den Häftlingen zeigen, die sie in den Lagern angefertigt haben.

Unter diesen Lagern, die im Gulag-System nach der Russischen Revolution 1917 eingerichtet wurden, können sich viele heute wahrscheinlich nichts Genaues vorstellen. Was ist ein Gulag?

Gulag steht in der wortwörtlichen Übersetzung für das 1930 gegründete Verwaltungsorgan, unter dem alle Lager zusammengefasst wurden. Später wurde der Begriff für das ganze Lager-Phänomen angewendet – man spricht heute zum Beispiel auch vom sogenannten „Gulag-Verbrechen“. Es gab ganz unterschiedliche Lager, zum Beispiel Minen, Baustellen oder Lager für Waldarbeit.

Wie es in diesen Lagern aussah, weiß man nicht genau. Es gibt nur wenige Fotos aus Propaganda-Büchern. Ansonsten hat man nur Zeichnungen von Häftlingen und die Erinnerungen von Zeitzeugen. In einem Brief spricht ein Häftling zum Beispiel von einem zehnstündigen Arbeitstag ohne Pause, von morgens um 6 Uhr bis nachmittags um 16 Uhr. Es war also ein sehr harter Alltag. Die Inhaftierten waren rechtlos, es gab Folter, Missbrauch, Erniedrigung und Erschießungen.

Aber es gab trotz allem auch ein relativ „normales“ Leben in den Lagern. Der gleiche Häftling erzählt, dass er abends Vorträge hielt für seine Mitinhaftierten, zum Beispiel über das Leben auf dem Mars. Auch die Gegenstände, die wir zeigen, haben Häftlinge in ihrer freien Zeit selbst in Werkstätten hergestellt. Das waren Erinnerungsstücke oder auch Geschenke für einander zum Geburtstag. Es kam wohl vor allem auch auf die Wächter an, wie schlecht es den Häftlingen ging.

In den Gulag kamen die unterschiedlichsten Menschen. Was war die Hauptfunktion dieser Lager?

Kurz gesagt waren die Lager Orte der Beseitigung von politischen Gegnern. Die Bolschewiken wollten die Opposition bekämpfen – sie nannten das am Anfang „Roten Terror“. Die Gegner waren alle, die sich gewehrt hatten, die kommunistische Idee anzunehmen und beim Umbruch mitzumachen. Später gab es sehr unterschiedliche Maßnahmen: Reiche Bauern wurden enteignet – wobei man klarstellen muss, dass man schon als reich galt, wenn man eine Kuh besaß -, ganze Familien wurden umgesiedelt, Familienväter wurden erschossen.

Irgendwann hat man mit „Säuberungsmaßnahmen“ begonnen. Das betraf ganz viele Persönlichkeiten aus der gehobenen Bildungsschicht, zum Beispiel Literaten oder Künstler. Man führte Schauprozesse durch, die auf unter Folter erzwungenen Geständnissen basierten. Viele der Angeklagten wurden sofort erschossen oder in den Gulag geschickt. Das Ziel war ganz klar: Man muss den „Konterrevolutionär“ und die „Volksfeinde“ bekämpfen.

In den Jahren des großen Terrors von 1937 – 38 wurden auch Erschießungsquoten verordnet: Zehntausende Menschen wurde so beseitigt – zum Teil auch nur, weil sie in Verbindung mit angeblichen „Volksfeinden“ standen. Es ging auch darum die Bevölkerung einzuschüchtern und Angst zu verbreiten. Irgendwann fing dann auch die breite Bevölkerung an zu glauben, dass diese Maßnahmen wichtig seien, um den Sozialismus zu schützen.

Neben diesen politischen Häftlingen kamen natürlich auch richtige Verbrecher in die Lager. Das war sehr schwierig, aber da wurde nicht getrennt: Ein Konterrevolutionär kam zusammen mit einem richtigen Mörder.

Viele Hinterbliebene erfuhren lange Zeit überhaupt nicht, was mit ihren Angehörigen passierte. Die Menschenrechtsorganisation MEMORIAL hat dann begonnen die Geschichte aufzuarbeiten.

MEMORIAL war die erste Organisation, die systematisch an der Aufarbeitung der Gulag-Geschichte gearbeitet hat. Es ist eine Anlaufstelle für die Hinterbliebenen, die oftmals gar nicht wussten, was aus ihren Liebsten geworden war. Es gab damals ein Gesetz, das besagte, dass den Verwandten einer Person, die erschossen wurde, mitgeteilt werden sollte, dass die Person für zehn Jahre ohne Briefwechselmöglichkeit verurteilt worden war. Das heißt sie erfuhren oft erst nach zehn Jahren, dass die Person schon längst tot war. Sie wollten dann natürlich wissen, wo sie erschossen wurde, was ihr unterstellt wurde … Memorial recherchierte nach diesen Menschen.

Irgendwann haben die Menschen auch angefangen Briefe und Gegenstände zu MEMORIAL zu bringen, weil sie dachten, dass sie dort besser aufgehoben seien. So wuchs ein ganzes Archiv mit Erinnerungsstücken aus dem Gulag.

Die Briefe und Gegenstände, die wir in der Ausstellung zeigen, stammen auch aus dem MEMORIAL-Archiv. Viele Exponate aus dem Archiv wirkten auf mich wie Kunstwerke: Kleine Zeichnungen, Stickereien, die Frauen ihren Familien geschickt haben, Briefe … So ist die Idee dieser Ausstellung entstanden.

Wenn Väter oder Mütter, die nicht wissen, ob sie lebend aus dem Gulag herauskommen, Briefe an ihre Kinder und Ehepartner schreiben, stelle ich mir das sehr emotional und traurig vor. Was steht in diesen Briefen?

Die Briefe unterscheiden sich sehr, je nachdem, ob sie an die Ehefrau oder an das Kind geschrieben wurden. An Kinder schrieben die Väter zum Beispiel Rätsel oder Gedichte. Ein Vater stellte ein Herbarium für seine Tochter zusammen, ein anderer schickte seinem Sohn Zeichenanleitungen. Wenn man heute weiß, unter welchen Bedingungen diese Briefe geschrieben wurden, dann haben sie natürlich eine ganz andere Bedeutung.

An die Ehefrauen waren die Briefe zum Teil auch sehr verzweifelt. In einem Brief aus der Ausstellung schreibt ein Vater, dass er nicht versteht, was passiert ist und wie er hier in das Lager kommen konnte. Einige Tage später wurde er entsprechend den bereits erwähnten Quoten erschossen.

Grundsätzlich sind die Briefe viel fröhlicher, als man das erwarten würde. Das ist fast schon als Heldentat der Väter und Mütter gegenüber ihren Kindern oder Ehepartnern zu sehen.

Fast jede Familie aus der ehemaligen Sowjetunion hat eine solche Geschichte in ihrer Vergangenheit. Wie kommt es, dass Sie sich persönlich damit beschäftigen?

Inspiriert hat mich eine Begegnung mit Irina Sherbakova, durch die ich zum ersten Mal zum MEMORIAL kam. Aber natürlich gibt es auch in meiner Familie eine Verbindung zu der Geschichte: Mein Urgroßvater wurde 1933 abgeholt und keiner wusste, wo er ist. Erst viel später haben wir erfahren, dass er zehn Tage nach der Festnahme erschossen wurde.

Als wir die Russischen Kulturtage ins Leben gerufen haben, hat sich schnell ein vielfältiges Programm mit Musik, Theater und Film entwickelt. Aber für uns war auch klar, dass wir die Revolution nicht ohne dieses dunkle Kapitel des Terrors unmittelbar nach der Revolution darstellen können. Wenn wir also in diesem Kontext die Gulag-Ausstellung zeigen, sprechen wir von Spuren der Revolution, die bis heute spürbar sind.

Info

Was? Ausstellung „Letzte Botschaften. Briefe von Vätern aus dem Gulag“

Wo? Foyer der UB Freiburg

Wann? Die Ausstellung wird am 26.10.2017 mit einer öffentlichen Vernissage ab 18.15 Uhr feierlich eröffnet. Um 18.45 Uhr wird Dr. Irina Sherbakova einen Vortrag halten mit dem Titel „Erinnerungen an den Terror heute“.

Wie lange? Die Ausstellung wird vom 26.10.2017 – 16.02.2018 im Foyer der UB zu sehen sein.

Die Ausstellung ist Teil der Russischen Kulturtage 2017. Noch mehr Veranstaltungen und Informationen zu den Russischen Kulturtagen gibt es auf der Website des Zwetajewa-Zentrums der Uni Freiburg und dem offiziellen Programmheft.

Wer mehr über Memorial erfahren möchte: www.memorial.de

Mehr zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution auf uniCROSS

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Fotos: Annkatrin Blessing
Veröffentlicht am 24. Oktober 2017

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