100 Jahre alt – heute modisch

100 Jahre alt – heute modisch

Die russische Revolution brachte eine völlig neue Gesellschaftsordnung mit sich – aber auch alltägliche Gegenstände wie Kleider wurden völlig neu gedacht. Heute könnte einiges davon sogar als ausgefallener Trend durchgehen – doch schicke, individuelle Mode hatten die Designerinnen bei ihren Entwürfen damals nicht im Sinn.

„Es ist erstaunlich, dass es für uns heute wie Mode wirkt, obwohl es 100 Jahre alt ist. Und dabei wollten die russischen Künstlerinnen damals gar keine Mode machen, sondern funktionelle, ästhetische Dinge.” Die Modedesignerin und Kunsthistorikerin Katja Weeke hat fünf Entwürfe russischer Künstlerinnen aus den 1920er Jahren nachgeschneidert.

Praktische Kleidung sollte es sein – für die arbeitende Bevölkerung

Vor der Revolution 1917 gaben in Russland die reichen Adeligen in Sachen Mode den Ton an. Was sie trugen war en Vogue: Samt, Stickerei, Pelz. Nach der Revolution standen zu Beginn der 1920er Jahre in der sowjetischen Gesellschaft die arbeitende Frau und der arbeitende Mann im Zentrum der Politik.

Designer sollten nun funktionelle und praktische Kleidung besonders für die arbeitende Bevölkerung entwerfen. Kleider waren in dieser Zeit also – ganz anders, als wir es heute kennen – als Gebrauchsgegenstände und nicht als individuelle Mode gedacht.

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Künstler und Künstlerinnen traten in die Massenproduktion ein

In der Kunst herrschten die Strömungen Konstruktivismus und Produktivismus vor, mit dem Ideal der in der Metallindustrie arbeitenden Künstler-Ingenieurinnen und Ingenieure. Tatsächlich drehte sich das künstlerische Schaffen letztendlich weniger um Fabrikarbeit, sondern mehr um das Erschaffen neuer nützlicher materieller Objekte, die das Alltagsleben im Sozialismus verändern sollten.

Die Künstlerinnen Varvara Stepanova und Liubov Popova versuchten auf ihre Weise, das Ideal der Künstler-Ingenieurinnen umzusetzen. Sie traten Mitte der 1920er in die sowjetische Massenproduktion ein und arbeiteten in der ersten staatlichen Baumwolldruck-Fabrik. Katja Weeke hat nun nach ihren Entwürfen fünf Outfits geschneidert.

Starke Formen und Farben in der Kunst und in der Mode

Gerade in den Farben und Formen der Kleidung zeigt sich die Ästhetik der russischen Avantgarde, des Kubo-Futurismus und Konstruktivismus, erklärt Katja Weeke: „Die ganz starke Farbaufteilung, Farbversetzungen oder geometrische Formen wie dieses schwarze Kreuz, das einen sofort an Malewitschs Kunst denken lässt.”

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Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch war Maler und Hauptvertreter der Russischen Avantgarde. Seine Gemälde, die auf geometrischen Formen beruhen, wie „Schwarzes Quadrat“, „Schwarzer Kreis“ und „Schwarzes Kreuz“ waren Meilensteine für die Malerei der Moderne.

Die Stoffe waren damals natürlich nicht so bequem wie heute

Die Kleider von Katja Weeke sind aus elastischem Jersey-Stoff, sie sind bügelfrei, haben Stretchanteil und sind sehr unempfindlich – praktisch eben, ganz im Sinne der damaligen Designerinnen. Damals gab es natürlich noch keine Stretch-Stoffe. „Ich habe teilweise nach künstlerischer Freiheit ein bisschen uminterpretiert. Die historischen Entwürfe waren ja auch nur Inspirationen, weil ich zeigen wollte, dass diese Entwürfe auch 100 Jahre später noch funktionieren!” sagt Katja Weeke.

Die 100 Jahre alten Entwürfe fallen zwischen heutiger Mode kaum auf

Wie gut die Entwürfe von damals auch heute noch zu tragen sind, ist aktuell bei den verschiedenen Veranstaltungen der Russischen Kulturtage zu sehen. Einige Besucherinnen oder die Projektleiterin Professorin Elisabeth Cheauré tragen von Katja Weeke geschneiderte Einzelstücke nach Mustern aus der Zeit der Russischen Revolution. Und wenn nicht gerade alle nebeneinander stehen, fallen die blau-roten Outfits neben der Kleidung der restlichen Besucherinnen und Besucher kaum auf.

Bei der Eröffnung der Russischen Kulturtage konnten Katja Weekes Outfits im Publikum entdeckt werden.

Info

Um die Kunst der russischen Avantgarde geht es in der Vorlesung „Segen oder Fluch? Die Revolutionen von 1917 und die Kunst der russischen Avantgarde”, Prof. Dr. Ada Raev, Eintritt frei.

Wann? 16. November 2017, 20.15 Uhr

Wo? Hörsaal 1010, Platz der Universität 3, 79098 Freiburg

Russische Kulturtage

Das ganze Programm der Russischen Kulturtage lässt sich in diesem Kalender nachlesen.

Das Programmheft bietet genauere Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen.

Mehr zum Thema Spurensuche Russische Revolution:

Melodien der russischen Geschichte
Erziehung zum Neuen Menschen
Ausstellung UB: Letzte Botschaften

Fotos: Marie Hopermann, Skizzen: Julia Nestlen nach Entwürfen von Varvara Stepanova und Liubov Popova 
Veröffentlicht am 16. November 2017

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