Literatur erwandern

Literatur erwandern

Im Rahmen der Eröffnungswoche des Literaturhaus Freiburg haben die „Sätzlinge“ in der Altstadt debütiert. Die Lesewanderung lockte zum zwölften Mal mit einer literarischen Erkundungstour: uniONLINE war dabei und ließ sich unter anderem von Literatur im Parkhaus überraschen.

Im Foyer des neuen Literaturhauses Freiburg sammeln sich Regenschirme in allen Größen und Farben. Sie weisen den Weg in den hellen Saal, eine große Fensterfront gewährt einen Ausblick in den Innenhof der alten Universität. Einzelne Gespräche werden vom Rascheln und Knistern der Regenjacken und -hosen übertönt, das kollektive Flüstern stoppt jedoch abrupt mit den ersten Klängen der kirschroten Gitarre, die der Singer-Songwriter Sebastian Polmans anstimmt: Überraschenderweise beginnt die zwölfte Lesewanderung der „Sätzlinge“ nicht nur mit Worten.

Wir werden mit der warmen Stimme des Sängers aus dem Grau des Nachmittags in eine Welt ohne Sorgen entführt. „Namasté“, singt er in einem seiner Kinderlieder und schließlich „sailing to life“, um dem Regen Kontra zu geben. Als wir uns kurz darauf mutig wieder nach draußen wagen, um die Leseorte in drei Kleingruppen in verschiedener Reihenfolge zu entdecken, sind es tatsächlich nur noch vereinzelte Tropfen, die auf die Kopfsteinpflaster der Bertoldsstraße fallen.

Benthe Betz – Kuratorin im Organisationsteams – setzt sich an die Spitze des circa 15-köpfigen Trupps. Die buntgemischte Gruppe besteht vor allem aus Frauen und einigen Männern verschiedener Altersstufen, darunter auch Studierende. Als wir die Kaiser-Joseph-Straße entlang bis zum Martinstor passieren und weiter zur Straßenbahnhaltestelle Holzmarkt laufen, wächst die Spannung sowie eine kribbelnde Neugierde auf die noch geheimen Leseorte heran.

Zur Märchenlesung von Simone Ott gehts in die 90-jährige Straßenbahn.

Erste Sätzlinge 2013 von Studierenden gepflanzt

Im Mittelpunkt der Lesewanderung stehen die „Sätzlinge“ selbst: Die Sätzlinge sind Autorinnen und Autoren, die sich unabhängig vom Lebensalter in ihrer frühesten literarischen Schaffensphase befinden. Die von den Organisatorinnen und Organisatoren Benthe Betz, Mario Willersinn und Lukas Kübler ausgewählten Texteinsendungen werden an außergewöhnlichen Orten in den verschiedenen Stadtteilen Freiburgs in Szene gesetzt, die der Besucher normalerweise nicht mit Literatur in Verbindung bringt.

Die Idee der „Sätzlinge“ entsprang bereits 2013 aus einer Übung des Deutschen Seminars in Kooperation mit dem damaligen Literaturbüro. Aufgrund des Erfolgs des eigentlich einmalig angedachten Projekts, wurde die Lesewanderung Teil des Programms des Literaturbüros in der Wiehre und findet seither halbjährlich statt.

Auch im neuen Literaturhaus finden die Sätzlinge wieder einen festen Platz: Für Organisator Mario Willersinn ist es eine große Ehre, Teil der Eröffnungswoche des neuen Literaturhauses in Freiburg zu sein: „Normalerweise besteht das Programm im Literaturhaus ausschließlich aus Profis. Unsere Sätzlinge stehen oft zum ersten Mal auf der Bühne, wir freuen uns sehr, dass das Literaturhaus offen für dieses Konzept ist!“

Wir stehen am Holzmarkt, Benthe schaut unruhig auf die Uhr und Richtung Johanneskirche. Ich schnappe ein leises „Straßenbahn“ unter den Gesprächsfetzen der Besucherinnen und Besucher auf. Tatsächlich rollt schon kurz darauf eine alte Straßenbahn heran, schwerfällig rattert sie über die Gleise und hält direkt vor uns: Mit offenen Mündern und gezückten Handys bestaunen wir den neunzigjährigen Straßenbahnwagon mit der roten Aufschrift „Sonderfahrt“, der uns zum Einsteigen einlädt. „Das ist eine Premiere bei den Sätzlingen!“, ruft Benthe aufgeregt, denn: „Zum ersten Mal, lesen wir auch an einem beweglichen Ort!“.

Im Innenraum angekommen, lassen wir uns auf die langen Holzbänke nieder, auf denen in der Vergangenheit bis zu 26 Personen durch die Stadt chauffiert werden konnten. Im Gegensatz zur alltäglichen Straßenbahnfahrt sitzen wir uns hier gegenüber, es ist kein anonymer Raum und die holzgetäfelten Wände vermitteln ein Gefühl von Ruhe und Wärme.

Dieser ganz besondere Leseort soll die Bühne für Simone Otts Märchen sein. Während das museumsreife Gefährt durch Freiburg kurvt und die Fenster immer weiter anlaufen, werden wir vom ersten Sätzling auf eine Reise nach „Kleinesland“ entführt, in dem die Prinzessin Rosa lebt.

Alle Zuhörerinnen und Zuhörer lauschen gespannt der Geschichte der Prinzessin Rosa.

Simone ist beruflich Schauspielerin, ihr Märchen trägt sie voller Inbrunst vor: So donnert ihre Stimme in der Rolle des Königs Roland durch den Wagon, als dieser von Rosa fordert, alsbald zu heiraten, um das Land zu retten. Rosa sucht Rat und Beistand bei ihrem treuen Gefährten und Reitpferd Fridolin, der ihr im Wiener Schmäh eine Karriere als Straßenkünstlerin ans Herz legt, um die eigene Unabhängigkeit zu gewährleisten. Als Jongleuse schließlich beeindruckt Rosa den Prinzen von Großesland: Dieser muss erschrocken feststellen, dass er sich Hals über Kopf in die Prinzessin des verfeindeten Kleinesland verliebt hat. Ob Rosa und ihr Prinz Johann die Streitigkeiten der Väter überwinden können?

Unter lautem Stöhnen und Applaus schlägt Simone ihr Märchenbuch zu, ob es ein Happy End gibt erfahren wir nicht. Die Straßenbahn tuckert inzwischen zurück in die Altstadt, durch die beschlagenen Scheiben erahnen wir die bekannten Straßen und Gebäude, die an uns vorüberziehen, während die Gedanken noch in Kleinesland verweilen.

Literatur mit allen Sinnen

Wer eine Lesewanderung der Sätzlinge besucht, der sollte sich nicht nur auf frische Literatur, sondern ebenso auf das Entdecken und Erkunden neuer Orte im vermeintlich alltäglichen Stadtbild einlassen. „Die Orte, an denen wir lesen, erhalten eine Transformation“, sagt Mario Willersinn. Und auch Benthe Betz betont, dass es sich lohnt, sich diese Räume neu zu erschließen, um sie zur Kulisse für Literatur werden zu lassen.

Bei den Sätzlingen steht nicht nur das Lesen und Hören im Vordergrund, denn alle anderen Sinne werden gleichermaßen beansprucht: Gerüche spielen ebenso eine Rolle, wie fremde Geräusche oder kalte und müde Füße beim Spazieren. So eroberten die Sätzlinge schon allerlei skurrile Orte mit ihrer jungen Literatur, sie lasen von der Kanzel der ältesten Kirche Freiburgs, der Melanchthonkirche in Haslach, im Wasserschlössle in der Wiehre oder in einem Friseursalon unter der Trockenhaube.

Kaum haben wir wieder festen Boden unter den Füßen, führt uns Benthe zum zweiten Leseort. Inzwischen dämmert es schon, die Altstadt ist an diesem Sonntag vergleichsweise leer, nur vereinzelt begegnen uns andere Passanten. Wir gehen die Salzstraße entlang, bis sich das Schwabentor vor uns abzeichnet. Dann biegen wir links in die Konviktstraße ein. Erstaunt folgen wir Benthe, die direkt auf die Schlossberggarage zusteuert und das Gebäude betritt.

Die besondere Lichtatmosphäre der Schwabentorgarage wird zum Schauplatz der Erzählungen von Fabian Blaznik.

Im Gegensatz zu den Fachwerkhäusern, die die Straßen Freiburgs normalerweise säumen und das Bild der Altstadt prägen, wirkt das Parkhaus kalt und abweisend. Zusätzlich begeben wir uns unter die Erde. Im Untergeschoss stehen kaum Fahrzeuge, uns umgibt nichts als graue Betonwände, weiße Striche markieren die leeren Parkplätze. Auf einem von ihnen steht Fabian Blaznik in einer kaum beleuchteten Ecke, die Wand hinter ihm offenbart unter abgebröckeltem Beton überraschenderweise eine Steinmauer, die im Gegensatz zum vorherrschenden Ambiente Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlt.

Fabian studiert Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Anglistik im dritten Semester und ist der zweite Sätzling, der heute für uns lesen wird. Seine erste Erzählung heißt „Der Knoten“. Der Motorenlärm im Stockwerk über uns sowie der langsam vorbeifahrende schwarze PKW, lassen uns mit Fabians Figuren Bus fahren: „Denn Tatsache ist, ich nahm diesen Bus und du hast da gesessen in einer mittleren Reihe, so unpassend unscheinbar ans Fenster gelehnt, dass ich dich erst nicht bemerkte.“

In der Geräuschkulisse, im kalten und leeren Raum, spüren wir, wie sich die schweren Worte der Kurzgeschichte wie die beschriebenen Fäden um uns wickeln und alle unsere Sinne miteinander verknoten. „Der Knoten“ erzählt von den plastisch dargestellten Verwirrungen des ersten Verliebtseins: „Ich beobachtete dich, wie du die roten, feinen Fäden nahmst, sie verknotetest, mir ein Wollknäuel zurückgabst, aus dem Bus ausstiegst und gingst.“

Im leeren Parkhaus echot Fabians Stimme, der Hall transportiert die düstere Atmosphäre seiner zweiten Geschichte „Das Ungesagte“ zu uns. Während das Erzählte immer noch nachklingt, verlassen wir das Parkhaus und atmen an der frischen Luft auf.

Außergewöhnliche Orte entdecken

Die Schwabentorgarage zur Lesebühne umzufunktionieren sei eine spontane Eingebung gewesen, sagt Mario Willersinn. Um besondere Orte zu finden und auszusuchen, streifen die Kuratorinnen und Kuratoren selbst durch den jeweiligen Stadtteil. Vom Lichtmotiv sowie der geisterhaften Stimmung in den Erzählungen Fabians angeregt, seien sie bei einer solchen Erkundungstour in der Schwabentorgarage gelandet und von diesem Ort begeistert gewesen.

„Benthe und Lukas waren bei dieser Ausgabe sozusagen Kuratoren-Sätzlinge“, erklärt Mario, der schon von Anfang an zum Organisationteam gehört und oft als „Urgärtner“ bezeichnet wird. „Deshalb konnten sie nicht erahnen, dass die ursprüngliche Idee der außergewöhnlichen Leseorte, auf eine Lesung in einem Parkhaus zurückgeht!“ Ausgehend von dieser ungewöhnlichen Erfahrung, sei das Grundkonzept der Sätzlinge entstanden. Zur Feier der zwölften Edition der Sätzlinge sowie im Rahmen der Eröffnungswoche des neuen Literaturhaus Freiburg, konnte somit der Bogen vom Ursprung bis zur heutigen Gestalt des Projekts geschlagen werden.

Auch der dritte Ort, an dem Christine Lauer auf uns wartet, schlägt die Verbindung vom Alltäglichen zum literarischen Erlebnis. Am Eingang der Textilwäscherei Himmelsbach begrüßt uns der Geschäftsführer und schleust uns sogleich durch das Gebäude bis hin zum Aufenthaltsraum der Angestellten. Christine sitzt in einem großen Sessel, einige Zuhörerinnen und Zuhörer setzen sich auf Holzstühle um den Kaffeetisch herum, andere lehnen sich an die großen Fenster.

Draußen ist es schon dunkel, als der letzte Sätzling des Abends zu lesen beginnt. Wir werden in das Jahr 1917 katapultiert: Der Schauplatz der Kurzgeschichte „Den Worten ein Abschied“ ist ein Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg. Der achtzehnjährige Protagonist versteckt seinen wertvollsten Besitz, einen Brief, in der Hoffnungslosigkeit des nahenden Angriffs: „Ich begrabe die Worte und mit ihnen auch mich.“

Christine Lauers Kriegsgeschichte begleitet uns noch auf dem dunklen Rückweg ins Literaturhaus.

Den Zugang zu dieser Thematik erhielt Christine durch ihre Bachelorarbeit, mit welcher sie ihr Studium der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft abschloss. Besonders wichtig sei ihr die Verbindung der Vergangenheit zur Gegenwart, sagt Christine nach der Lesung. Es gehe ihr vor allem um den heutigen Umgang mit den Geschehnissen sowie die Erinnerung an diese. Aus diesem Grund erfahre ihre Erzählung eine Wendung, als im Jahr 2017 der versteckte Brief des Soldaten gefunden wird. Weshalb sie ihre Kurzgeschichte in der Firma Himmelsbach vorliest, kann nur im Kontext verstanden werden: Das Gerberviertel wurde infolge des Krieges in weiten Teilen zerstört und kann somit als exemplarische Szenerie für eine Erinnerungskultur betrachtet werden.

Die Lesewanderung macht Literatur lebendig

Für Christine zeichnen sich die Sätzlinge vor allem durch ihren unkonventionellen Zugang zu Literatur aus: „Ein Text entsteht nicht nur einmal durch den Stift, der ihn aufschreibt, sondern immer wieder neu durch die Stimme beim Vortragen!“ Auch Autor Fabian Blaznik betont, dass durch den literarischen Spaziergang, die vorgelesenen Texte zurück in das städtische Umfeld überführt werden: „Der Kontrast des Privaten und Vertrauten zum Urbanen schafft eine besondere Atmosphäre!“

Auf dem Rückweg in das Literaturhaus Freiburg, wo uns wiederum die sanfte Stimme Sebastian Polmans erwartet, schwingt das soeben mit allen Sinnen Erlebte bei jedem Schritt mit: Literatur wird bei den Sätzlingen aufregend, lebendig und vor allem zum Ort der Begegnung.

Info

Die nächste Lesewanderung der Sätzlinge findet am Freitag, 18. Mai 2018, in Herdern statt.

Ab sofort können sich wieder unbekannte Autorinnen und Autoren mit ihren Texte bei den Sätzlingen bewerben! Die Ausschreibung läuft noch bis Ende Januar 2018.

Auf der Website und auf der Facebookseite der Sätzlinge gibt es alle aktuellen Informationen zu den Lesewanderungen in Freiburgs Stadtvierteln:

Das vollständige Programm des Literaturhaus Freiburg ist hier zu finden: www.literaturhaus-freiburg.de

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Sätzlinge erobern die Altstadt

Fotos: Verena Schieber
Veröffentlicht am 14. November 2017

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