Das eigentliche Wunder

Das eigentliche Wunder

Ob Kurzgeschichte, Liebesgedicht, Romanausschnitt oder Poetry-Slam Text – Lu liebt Literatur! Auf uniCROSS stellen euch Mitglieder der Uni ihre Texte vor. Heute: “Das eigentliche Wunder” von Johannes Breuninger.

Der Warschauer Kulturpalast.

Dank eines unverschämt günstigen Fluges weilten meine Freundin und ich in Warschau. Am dritten Abend überlegten wir, ob die Warschauer Nacht noch einen Versuch wert wäre. Der Tag hatte seine schweren Gedanken. Als junge Deutsche in einer Stadt zu sein, die „die Deutschen“ nicht immer mit freundlichen Absichten betreten hatten. Doch all diese Gedanken beiseitelassend, einigten wir uns auf ein Bier am Kulturpalast, dem markanten Wahrzeichen der polnischen Hauptstadt. Es zeigte sich, dass es sich stets lohnt noch einmal das enge Hostel-Zimmer zu verlassen:

Wir waren mit vielen jungen Menschen mit Bier in der Hand in ein kostenloses Konzert geraten. Beschallt von polnischer guter Laune-Musik schmeckte das eigene Gute-Laune-Getränk gleich noch viel besser.

Die Menge um uns herum tanzte wild. Es war schön, sich gemeinsam ausgelassen zu bewegen, auch wenn – oder gerade weil – der Tag so anstrengend war. Dabei mogelten wir uns auf ein unbeholfenes Selfie, dass ein schüchterner Kerl und eine adrette Dame vor uns bei ihrem Date gemacht haben. Der Fauxpas, das Date gestört zu haben, fiel erst auf, als wir einen semiironischen Daumen als Reaktion auf das Bild erhielten. Doch die Geschichte von uns vieren an diesem Abend war noch nicht vorbei.

Zwischen jedem Lied kündigte die Band den neuen Song auf Polnisch an und die Menge verfiel stets in Gelächter und Vorfreude. Polnisch verteilt nur wenige Hinweise über den Inhalt, die verwertbar sind für die Menschen, die des Polnischen nicht mächtig sind. Meine Freundin und ich blickten uns nur Mal um Mal fragend an; hatten das Prozedere aber verstanden.

Irgendwann ging die Neugier mit mir durch und ich bat den schüchternen Kerl vor uns um eine kleine Übersetzung. Seine Augen blitzen auf vor Freude, er konnte sich vor seinem Date profilieren, indem er den Ausländern half. Mit Freuden spielte ich für ihn den unbeholfenen Touristen, ganz ohne Absprache. „The next song has a very fast rythm.“ – „Dziękuję!“. Ein Lächeln gab es angesichts meiner miserablen Aussprache – von ihm und seinem Date.

Innerhalb von 20 Minuten aus den Stockbetten in ein wunderschönes Konzert hatte etwas von einem Wunder.

Weitere zwei Songs wurden gespielt ehe wir die nächste Sprosse der Smalltalk-Leiter erklommen: „Where are you from?“ fragte der immer weniger schüchterne Pole. Angesichts dessen was Warschau uns an jenem Tag vor Augen geführt hatte, war die Frage eher unangenehm. „Germany“ brachten wir nun selbst schüchtern zu Wort. Doch die Augen des Polen blitzen erneut vor Freude auf. „Germany! I love Germany, I was in Munich for one year and it was amazing.“ Wir waren beide erleichtert. Es schien uns fernliegender als ihm, zu diesem Land heute eine positive Assoziation zu haben.

Das war das eigentliche Wunder dieser Nacht: Erleben zu dürfen, wie ein Pole keinen Gedanken an das verschwendet, was ein Land einst seinem angetan hat.

Drei weitere Songs später verließen unser neuer Freund und sein Date das Konzert Hand in Hand.

Autor: Johannes Breuninger

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Veröffentlicht am 13. März 2018

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