Studieren wie alle anderen auch

Studieren wie alle anderen auch

Das Studium kann anstrengend sein – das würden vermutlich fast alle Studierende bestätigen. Doch wie ist es, wenn zu den normalen Belastungen und Schwierigkeiten eines Studiums auch noch eine Hörbehinderung hinzukommt? Annkatrin hat Carina und Thilo begleitet und nachgefragt.

Es ist 10.05 Uhr, wir gehen die Treppe zum KG I hinauf und betreten den Hörsaal 1015. Carina steuert zielsicher einen der beiden Plätze in der ersten Reihe an, auf denen ein Aufkleber mit einem Ohr zu sehen ist. Der Hörsaal füllt sich langsam, die Dozentin steht schon vorne und wartet. Carina packt ihren Laptop und die ausgedruckten Vorlesungsfolien aus. Auf den ersten Blick alles ganz „normal“ – bis auf die zwei unscheinbaren Hörgeräte in Carinas Ohren.

Carina studiert Mathematik und Geographie auf Lehramt nach GymPO10, 11. Semester, Abschluss voraussichtlich im WS 2020/21.

Carina studiert Mathematik und Geographie auf Lehramt. Sie ist hochgradig schwerhörig, das weiß man seit sie viereinhalb Jahre alt war. Hochgradig schwerhörig bedeutet in ihrem Fall, dass sie nur ein Hörvermögen von 20 bis 30 Prozent hat. Einzelne Konsonanten hört sie überhaupt nicht, diese Lücken muss ihr Gehirn beim Hören selbst füllen. Die Hörgeräte, erklärt sie, seien dazu da, das zu verstärken, was sie ohnehin hört – so als ob man die Lautstärke hochdreht.

Die Vorlesung „Regionale Geographie Europas: Skandinavien“ beginnt. Der Blick der Dozentin streift Carina kurz, als sie die Studierenden darauf hinweist, dass man sich melden solle, falls man etwas nicht versteht oder die Lautstärke des Mikrophons nicht passt. Sie spricht langsam und deutlich. Carina schaut konzentriert auf die Präsentation und auf den Mund der Dozentin. Zwischendurch tippt sie etwas auf ihrem Laptop oder macht sich Notizen auf ihren Folien. Sie konzentriert sich entweder auf das Zuhören oder das Mitschreiben.

„Die größte Schwierigkeit für mich sind tatsächlich die Lücken, also was ich auditiv nicht mitkriege.“ Es hilft ihr, den Mund der sprechenden Person zu sehen – doch selbst dann gehen manche Informationen unter. Dadurch muss Carina sehr viel mehr nacharbeiten und braucht mehr Zeit, um Veranstaltungen nachzubereiten als ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen. „Für eine normale Vorlesung brauche ich ungefähr vier bis fünf Stunden für die Nacharbeit – zusätzlich zu der ‚normalen‘ Vorbereitung für die Klausur.“

Ihre Entscheidung, ein Studium zu beginnen sei eher spontan gewesen, sagt Carina. Bedenken hatte sie zunächst erst mal keine: „Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was Probleme sein könnten, wenn man plötzlich mit 400 Studierenden in einem Raum sitzt, wenn der Dozent rumläuft, keine Rücksicht mehr genommen wird wie in der Schule.“ Der Kontrast zwischen der sonderpädagogischen Schule und der Uni war groß.

„… Konzentrationspause …“ steht in Carinas Notizen zur Vorlesung. Sie gähnt und lehnt sich etwas erschöpft zurück. Auch ich bin müde, eine Stunde dauert die Vorlesung bereits, ohne Pause – wie auch sonst üblich. Während die Dozentin weiter über Standortfaktoren und wichtige Industriezweige spricht, konzentriere ich mich auf die Geräuschkulisse im Hörsaal. Tippen auf Laptoptasturen, raschelndes Papier, Husten und Räuspern, eine Flasche fällt klirrend auf den Boden, draußen vor dem Fenster Baustellengeräusche.

Die Aufkleber mit den Ohren, die sich nicht nur auf einzelnen Plätzen im Hörsaal, sondern auch draußen auf dem Schild mit der Nummer des Hörsaals befinden, zeigen an, dass dieser Hörsaal mit einer sogenannten Induktionsanlage ausgestattet ist. Diese Anlage ermöglicht es Studierenden mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantat die Audiosignale direkt vom Mikro der Dozierenden zu empfangen, ohne Störgeräusche.

Aktuell sind sechs Hörsäle mit einer solchen Induktionsschleife ausgestattet, darunter das Audimax sowie fünf weitere Hörsäle im KG I (siehe Info). An der technischen Fakultät können Studierende mit einer Hörbehinderung Taschenempfänger entleihen, diese funktionieren ähnlich wie Audioguides im Museum.

Auch Thilo ist hochgradig schwerhörig, er studiert im fünften Fachsemester Medizin. In den Hörsälen der Medizin gibt es keine Induktionsanlagen. Carina und auch Thilo haben daher eine eigene Frequenzmodulations-Anlage, kurz FM-Anlage. Sie besteht aus einem Mikrophon, das der Dozent sich um den Hals hängt, und einem Empfänger, der die elektrischen Funksignale in Schallwellen umwandelt und direkt an die Hörgeräte weiterleitet.

„Mein Gesamteindruck ist, dass die Dozierenden alle supernett sind, was das Tragen meines Mikrophons angeht“, fasst Thilo zusammen. Manche der Assistenten, die Thilo schon kennen, hätten ihm sogar angeboten, das Mikrophon einfach auf das Pult zu legen und die Dozierenden für ihn aufzuklären. Carinas Erfahrungen sind da etwas durchwachsener: „Manchmal war es etwas schwierig, Dozierende dazu zu überreden, das Mikrophon zu tragen. Sie fragten dann, ‚Warum sollen wir noch etwas Zusätzliches tragen?‘“

Beate Massell, die Beauftragte für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, fasst die Induktions- oder die FM-Anlagen als „technische Hilfen“ zusammen. Sie seien sehr hilfreich, sie kenne aber auch ihre Grenzen: Exkursionen, Gruppengespräche oder auch Fragen aus dem Publikum seien ein Problem. „Für Dozierende stellt sich die Aufgabe, ganz viel zu visualisieren oder Fragen aus dem Publikum nochmal ins Mikrophon zu wiederholen.“

Die Vorlesung läuft weiter. Folie um Folie ziehen Landkarten und Diagramme an Carina und mir vorbei. Die Dozentin erklärt die Symbole der Legende einer Karte. Während Carina gerade noch die ersten zwei Erklärungen notiert, ist die Dozentin schon längst bei ihrem nächsten Punkt angekommen. Fragezeichen auf Carinas Blatt. Ich schreibe den Begriff auf meinen Block und schiebe ihn zu ihr rüber. Lächelnd bedankt sie sich und notiert sich das fehlende Wort.

Neben den technischen Hilfen gibt es für Studierende mit Hörbehinderung auch noch persönliche Hilfen. Das sind zum Beispiel Mitschreibhilfen oder Schriftdolmetscher-Dienste. Dabei werden die Audiosignale der FM-Anlage auf das Handy oder den Laptop übertragen und über das Internet an einen Schriftdolmetscher oder eine -dolmetscherin geschickt. Sie oder er transkribiert dann simultan, sodass die Studierenden, etwas zeitlich versetzt, mitlesen können, was die Dozierenden sagen.

Auch Carina hat während ihres Studiums schon auf diese Dolmetsch-Dienste zurückgegriffen: „Diese Dienste sind grundsätzlich sehr hilfreich, wobei man natürlich auf eine gut funktionierende Internetverbindung angewiesen ist. Jedoch gibt es da den Kostenfaktor.“ Eine Stunde Übersetzung kann bis zu 115 Euro kosten. Hinzu kommt, dass sich die Dolmetscher und Dolmetscherinnen meistens nicht mit den Fächern an sich auskennen. Das kann in Fächern zum Beispiel bei Mathematik wie in Carinas Fall die Qualität und den Nutzen der Transkripte schmälern.

Thilo und Carina sprechen daher oft Kommilitonen und Kommilitoninnen an, ob sie deren Mitschriften bekommen können. Die meisten reagieren sehr hilfsbereit. Doch auch mit diesen Transkripten oder Mitschriften braucht es noch viel eigene Nacharbeit. „Eine Mitschrift ist ja immer schon gefiltert“, erklärt Carina, „was derjenige schon weiß, schreibt er natürlich nicht auf.“

Um die zusätzlichen Studienerschwernisse auszugleichen, haben Studierende mit Behinderung ein Recht auf einen Nachteilsausgleich. Dieser wird mit einem formlosen Antrag bei der zuständigen Prüfungskommission beantragt. Darin schildert der Student oder die Studentin ganz genau die Probleme und Bedürfnisse, die sich durch die Behinderung im Studium ergeben. Außerdem wird ein ärztliches Attest benötigt, in dem der Arzt eine detaillierte Einschätzung der Beeinträchtigung gibt.

Für Studierende mit Hörbehinderung umfasst der Nachteilsausgleich meistens eine Schreibzeitverlängerung, also mehr Zeit für Klausuren oder Hausarbeiten. Auch das Verschieben der Orientierungsprüfung ist ein möglicher Ausgleich, erklärt Beate Massell: „Der Student bekommt die Möglichkeit, einfach länger zu studieren und ein geringeres Pensum zu machen, weil der Aufwand so hoch ist.“ Auch die maximale Föderungshöchstdauer beim BaFög könne für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung verlängert werden.

Thilos Nachteilsausgleich beträgt 30 Prozent Schreibzeitverlängerung. Doch bei mündlichen Prüfungen geht das natürlich nicht so leicht. Hier hätte er die Möglichkeit, dass alle Fragen schriftlich für ihn niedergeschrieben werden. Doch davon habe ihm sein Prüfer abgeraten, da der Verlauf der Prüfung so wesentlich weniger flexibel gestaltet werden kann.

Es gibt viele weitere Bereiche, in denen die Uni die Bedingungen für Studierende mit Hörbehinderung erleichtern könnten. Thilo wünscht sich mehr Hörsäle mit Induktionsanlagen – gerade auch im Institutsviertel. Für Carina wären mehr Ruheräume hilfreich, in denen sie sich zwischen Vorlesungen oder Kursen von den vielen Geräuschen erholen und den Kopf kurz entlasten kann. Auch mehr Gruppenräume für Lerntreffen, in denen es ruhiger ist als zum Beispiel im Parlatorium der UB, wären für beide eine Erleichterung.

Beate Massell ist Beauftragte für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung.

Beate Massell findet die Idee einer hörfreundlichen Uni sehr spannend, dass also mehr Bewusstsein für die Herausforderungen von Studierenden mit Hörbehinderung geschaffen wird – „dass man diese Studierenden immer ‚mitdenkt‘.“ Die Schritte in Richtung einer ‚diversity-freundlichen‘ Lehre, wie sie es nennt, richten sich oft an die Dozierenden: Viel visualisieren, das Mikrophon der FM-Anlage umhängen, Unterlagen für Studierende mit Hörbehinderung schon vor der Vorlesung zur Verfügung stellen.

Auch mehr Austausch unter Studierenden mit ähnlichen Herausforderungen, im Sinne eines Mentoring-Programms, wäre laut Carina und Thilo hilfreich. Das könnte möglicherweise auch die Hürde herabsetzen, ein Studium zu beginnen – trotz Behinderung. Gerade in Bezug auf Medizin hat Thilo den Eindruck, dass gar nicht damit gerechnet werde. „Wenn man Studieren mit Behinderung etwas mehr verbreiten würde und die Angst aus den schwierigen Studiengängen nehmen würde, dann würden das vielleicht auch mehr Menschen mit Behinderung versuchen.“

In ihrer Sprechstunde hatte Beate Massell in den letzten zwei Jahren Kontakt mit 400 Studierenden mit Hörbehinderung. Das Feedback sei insgesamt eher positiv, die meisten schließen ihr Studium ab, auch wenn sie vielleicht etwas länger brauchen. Das liege aber hauptsächlich an der Einstellung der Studierenden selbst: „Man muss sich klarmachen, dass das extrem leistungsfähige und -willige Menschen sind. Ich habe manchmal das Gefühl, sie kennen das gar nicht, dass sie Dinge aufschieben, oder mal keine Lust haben.“

Die Vorlesung ist vorbei. Wir packen unsere Sachen ein und verlassen das KG I in Richtung UB. Carina setzt sich auf ihr Fahrrad und fährt erstmal nach Hause. Nach dem ganzen akustischen Input muss sie sich erst einmal ausruhen.

Wenn alles gut läuft, wird sie 2020/21 ihr Staatsexamen machen und dann Lehrerin werden. Möglicherweise an der Schule in Stegen, die sie selbst besucht hat. Und vielleicht dient sie dort ja sogar dem ein oder anderen Schüler als Inspiration, ebenfalls ein Studium zu beginnen.

Info

Alle wichtigen Informationen zum Thema ‚Studieren mit Behinderung oder chronischer Erkrankung‘ sind in Kurzform auf dem Flyer und ausführlich auf der Website der Uni Freiburg zusammengefasst.

Neben Informationen zu Bewerbung und Zulassung gibt es hier auch Informationen zum Nachteilsausgleich und eine Übersicht über die Hilfsmittel, die vorhanden und ausleihbar sind.

Anlaufstellen

Zentrale Ansprechpartnerin für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung ist Beate Massell. Sie berät zu Unterstützungsmöglichkeiten und vermittelt gegebenenfalls zwischen Studierenden und Lehrenden. Sie ist erreichbar per Telefon (0761 – 203 -67380) oder E-Mail (massell@service.uni-freiburg.de). Ihre Sprechzeiten sind Mo 14 – 16 Uhr, Mi und Do 9 – 12 Uhr (sowie nach Vereinbarung per E-Mail).

Weitere zentrale Anlaufstellen gibt es auf der Website der Uni Freiburg.

Hörsäle mit Induktionsanlagen

Eine aktuelle Liste der Hörsäle mit Induktionsanlagen gibt es unter folgendem Link: www.studium.uni-freiburg.de/liste-induktionsanlagen-und-transmitter

Zusätzlich zu den hier aufgeführten Hörsälen gibt es außerdem Induktionsanlagen im Hörsaal Kristallographie, im Paulussaal und der Pauluskirche, im Hörsaal Physik Westbau und im Theatersaal in der Alten Universität.

Bei Neubauten werden Induktionsschleifen standardmäßig eingeplant, bei Bestandsgebäuden werden die Hörsäle bei Generalsanierungen mit Induktionsschleife nachgerüstet.

Ruheräume

Folgende Räume können als Ruhe- und Rückzugsräume genutzt werden: 

Partiell rückgebautes Behinderten-WC in der UB Freiburg Lesesaal 1, Still- und Wickelraum im KG IV (Raum 04 055), Erste-Hilfe-Raum im Physiologischen Institut (Raum 01 023), an der Technischen Fakultät Raum 01 004 im LAB 3, Raum 01 017 im TEC 4, Raum 00 040 im FIT, Raum 00 010 im Gebäude 106. 

Außerdem können folgende Erste-Hilfe-Räume als Rückzugsorte genutzt werden (medizinische Notfälle haben Vorrang): im KG I, im Institut für Psychologie, in der UB, im Rektorat, im Kristallographischen Institut, im Zentrum für Neurowissenschaften, im Freiburger Materialforschungszentrum, im Verfügungsgebäude (Stefan-Meier-Straße 19), in der Chemie I und II, im Lehrgebäude 101 und im LAB 2 der Technischen Fakultät, im Zentrum für Biosystemanalyse, im Centre for Biological Signalling Studies (BIOSS).

Lern- und Gruppenräume

Die Seminarräume der zentralen Hörsaalvergabe insbesondere im Kollegiengebäude I sind in den nicht gebuchten Zeiten offen, damit sie von Lerngruppen genutzt werden können. Aufgrund des vorbeugenden Brandschutzes mussten die installierten Sitzgruppen in den Fluren entfernt werden. Inwieweit ein regelgerechter Wiederaufbau in Nischen und Fluren möglich ist, wird augenblicklich geprüft. Insbesondere im KG I wurde eine regelkonforme Neumöblierung in der Halle in der Theologie vorgenommen. Dort befinden sich Kojen für Gruppenarbeiten wie auch eine Möblierung für computergestützte Einzelarbeit.

In der Entwicklungsplanung der Uni Freiburg wird angestrebt in Neubauten, aber auch im Zuge von Sanierungen, eine Mischung aus Einzel- und Gruppenarbeitsplätzen anzubieten. Auch Buchungssysteme für Lernräume sind längerfristig vorgesehen. 

UB Freiburg

Die Unterstützungsangebote der UB Freiburg sind auf der Website der UB zusammengefasst. 

Eingliederungshilfe

Das Amt für Soziales und Senioren der Stadt Freiburg ist für die sogenannte Eingliederungshilfe zuständig. Hier können Studierende mit Behinderung (finanzielle) Unterstützung für technische (Thilo hat zum Beispiel ein elektrisches Stethoskop, das er mit seiner FM-Anlage verbinden kann, erhalten) oder persönliche Hilfen (zum Beispiel Übersetzungshilfen) beantragen. Weitere Informationen, Öffnungszeiten und eine Anleitung für die Beantragung von Eingliederungshilfe gibt es auf der Website der Stadt Freiburg.

Fotos: Annkatrin Blessing
Veröffentlicht am 17. Mai 2018

Empfohlene Artikel