Celebrari aude – der jubilierende Senf

Celebrari aude – der jubilierende Senf

„Ich wollte morgen eigentlich um 9 Uhr in der Bib sein …“. Diesen Satz kann auch Samantha nicht leugnen gesagt zu haben, bevor sie dann doch dem Genuss des nächtlichen Lustwandelns verfallen ist. Warum es scheinbar keine Ausreden gegen das Feiern gibt und zu welchen Jubiläen wir dieses Jahr die Korken knallen lassen sollten.

Es mag natürlich an der liebenswerten Atmosphäre des sonnenbeschienenen Städtchens liegen, in dem wir leben, das einem selbst in lauen Sommernächten beim lustigen Lustwandeln durch enge, weinverhangene Gässlein keinen Raum für ein schlechtes Gewissen lässt, auch wenn wegen jener überschwänglicher Genussmomente am Ende des Monats kleinere Hungersnöte durch Leere im WG Kühlschrank drohen oder man als Nachteule am nächsten Tag erst dann in der UB aufschlägt, wenn die frühen Vögel ihr Tagewerk bereits niederlegen, um sich genüsslich an dem fetten Wurm ihrer Lernfortschritte und Diszipliniertheit zu laben.

Vielleicht hängt es aber auch mit dem Überangebot an Festen zusammen, deren Credo es nun mal ist, sie zu feiern, wie sie fallen – eine Redensart, die durch Hermann Salingrés Lokalposse von 1870 so populär wurde, dass sie einen heute jeglicher ausredentechnischer Ansätze beraubt und schutzlos in der Ausweglosigkeit des oben skizzierten Szenarios zurück lässt. #dankeSalingrés

Jubeljahre

Auch in diesem Jahr scheint sich das Rauschen der Feste nicht zu einem produktivitätssteigernden Säuseln abschwächen zu lassen: Zu wichtig die Erinnerungskultur in einer Gesellschaft, die nicht zu selten auf dem disziplinorientierten, ratiodominierten und empathiereduzierten Limes der Alltäglichkeit wandelt.

Verwandelt zurückgelassen – und zwar im positiven Sinn – hat hingegen nicht nur Johannes Gutenberg die Welt, als er vor 550 Jahren starb, indem er sich nicht vor dem Fortschritt sondern viel lieber Bücher gedru(e)ckt hatte; verwandelt hat auch Viktor Frankenstein sein Monster in Mary Shellys Roman, die damit bereits vor 200 Jahren den Grundstein der Debatte um künstliche Existenzen legte.

Vor ebenso vielen Jahren erblickte außerdem mit Karl Marx der Alptraum der kapitalistischen Ausbeuterschaft das Licht der Welt, das uns seit nunmehr 210 Jahren auf elektrischem Wege aufgehen kann und das auch durch 100 Jahre Flipflop-Schaltung nicht nur auf Knopfdruck wieder aus geht sondern 10 Jahre später fester Bestandteil der ersten Übertragung des Telekommunikations-Systems in der Flimmerkiste ist und sich dadurch zu dem entscheidenden erzieherischen Druckmittel der Moderne entwickelte. Sang und klanglos untergehen war dabei keine Option, daher rasteten zum 140. und 141. Geburtstag der Erfindung des Kohlemikrophons durch Emil Berliner und ein Jahr später durch David Edward Hughes dieses Jahr nicht nur alle Radiosender vor Freude über die Möglichkeit zur Radioaktivität aus, sondern auch die Radiologen und AKW-Gegner wegen selbiger Entdeckung vor 122 Jahren.

Ob solcher zweischneidiger Erfindungen krank zu werden, sollten wir zum 90. Entdeckungsjahr des Penicillins nicht wagen, denn mit was sonst als dem ersten vor 200 Jahren durch Elisha Collier patentierten Revolver sollten diese endlosen Jubiläumssalven der Freude über die hypothetischen 100. Geburtstage von Nelson Mandela und Helmut Schmidt abgefeuert werden. Nach 75 Jahren kleiner Prinz und 20 Jahren Harry Potter in Deutschland entzünden sich die zahlreichen Geburtstagskerzen auf der Jubiläumstorte schon durch einfaches wutschen und wedeln.

Doch siehe da, ein weiteres kleines Licht im Schatten der Gigantik dieser jubilierenden Torte …

Celebrari aude – celebrari saurion

Immerhin ist es zumindest der Dialektik der Aufklärung der modernen Menschen geschuldet, dass wir zu Geburtstagen, Jahrestagen, Hochzeiten, Studienabschlüssen oder anderen freudigen Ereignissen das celebrari aude – den Mut sich selbst und nicht mehr nur geistliche oder göttliche Herrn zu feiern – zulassen – wenn auch nicht selten mit strahlender Schamesröte im Gesicht. Doch zum Glück greift natürlich auch hier das alles entwaffnende Rechtfertigungscredo Salingrés: Da man Feste somit eben feiert muss, wie sie fallen, begehe ich im Schatten der historischen Ereignisse und Jubiläen dieses Jahres die zweijährige Baumwollene-Hochzeit mit meinem Senf, und zwar nicht durch einen Essensunfall auf meinem Shirt, sondern mit dem Ziel, mich bei all jenen zu bedanken, bei denen mein monatliches wettkämpferisches Kolumnieren gegen die Provokation des weißen Blattes nicht auf gewürzlose Gleichgültigkeit stößt. Danke dafür!

Samantha Happ findet wunderliche Dinge bemerkenswert und tut dies in ihrer Kolumne “Mein Senf” kund.

Samantha findet wunderliche Dinge bemerkenswert und tut dies in ihrer Kolumne “Mein Senf” kund.

 

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Foto: Samantha Happ
Autoren:
Veröffentlicht am 17. Juli 2018

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