„Ohne ’68 wäre die Uni heute nicht, wie sie ist“

„Ohne ’68 wäre die Uni heute nicht, wie sie ist“

Vor 50 Jahren demonstrierten Menschen in Deutschland und vielen anderen Ländern für eine gesellschaftliche Modernisierung. Johanna hat sich mit Dr. Franz Leithold, der letztes Semester ein Seminar zum Thema leitete, darüber unterhalten, wie Studierende in Freiburg protestierten, was sie bewegte und warum heute keine neue 68er Bewegung entsteht.

Dr. Franz Leithold ist stellvertretender Direktor der UB und der Leiter des Medienzentrums.

Herr Leithold, Sie haben gemeinsam mit Prof. Dr. Sylvia Paletschek und Prof. Dr. Ulrich Bröckling ein Seminar zum Thema 1968 in Freiburg angeboten. Welche Hintergründe hatten dazu beigetragen, dass 1968 Studierende in Deutschland massenhaft auf die Straße gingen?

Interessant ist, dass das Phänomen weltweit zu beobachten war, und dass die Höhepunkte der Bewegungen jeweils in den Jahren 1968/69 lagen.

In Deutschland war es sicherlich auch die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 während des Schah-Besuchs in Berlin. Der Polizist Karl-Heinz Kurras schoss dem unbeteiligten jungen Mann von hinten in den Kopf. Daraufhin gab es bundesweit, auch in der Provinz, Proteste.

Ein Grund für die Proteste, den auch damals viele angeführt hatten, war die Kontinuität von Karrieren aus dem dritten Reich im Nachkriegsdeutschland. In der Justiz, in Krankenhäusern, Universitäten, Schulen und in der Politik, überall haben Nazis problemlos weiterarbeiten können. Kiesinger, von 1966-1969 Bundeskanzler, war NSDAP-Mitglied. Lübke, von 1959 bis 1969 Bundespräsident, war an der Planung von KZs beteiligt. 

Die tiefer liegenden Ursachen für die 68er Bewegung waren ja überall in Deutschland vorhanden – Unzufriedenheit mit der Politik, Frustration über mangelnde Vergangenheitsbewältigung der elterlichen Generation, der Vietnamkrieg. Aber was war in Freiburg der Auslöser für die Demonstrationen?

Im Februar 1968 beschloss der Gemeinderat Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr von über 20 Prozent. Da sind die Studierenden aber auch die Schüler und die Lehrlinge auf die Straße gegangen. Man traf sich immer um 13 Uhr am Bertoldsbrunnen. Daraufhin hatten die Verantwortlichen versprochen, die Sachen nochmal im Gemeinderat zu diskutieren und öffentlich zu machen. Das ist aber nicht erfolgt. Es ging letztlich ohne Ergebnisse aus, die Fahrpreise wurden erhöht. Aber es war der Beginn, der Auftakt dazu, auch in der Universität politischer zu werden.

Begonnen hatten die studentischen Proteste in Freiburg schon viel früher. 1952 haben in Freiburg 200 bis 300 Studierende dagegen protestiert, dass der Nazi-Regisseur Veit Harlan weiterhin Filme machen konnte. Veit Harlan hat einen der brutalsten Propagandafilme für die Nazis produziert, „Jud Süß“ und nun sollte sein neuer Film, „Hanna Amon“ im Friedrichsbau gezeigt werden. Die Bevölkerung spuckte die Demonstranten an, bezeichnete sie als „Judensöldlinge“ und Kommunisten, von der Polizei wurden sie verprügelt. Die Rektoratsleitung der Uni hat zum Glück mit den Studierenden sympathisiert und das auch öffentlich gemacht. Aber das zeigt, wie die Stimmung damals war.

Warum waren es gerade die Preiserhöhungen, die dann 1968 die Proteste ausgelöst haben?

Ich glaube vielen wurde bewusst, dass man Menschen für eine soziale Sache mobilisieren kann. Denn das war ja eine soziale Aktion, die auch der gesamten Bevölkerung zugutegekommen wäre. Das Vorbild für die Proteste in Freiburg war Bremen, da gab es kurze Zeit vorher auch Fahrpreisdemonstrationen, die aber erfolgreich ausgingen.

Ein großer Kritikpunkt der Studierenden damals war die mangelnde Vergangenheitsbewältigung der Uni. Im Ehrenbuch der Universität Freiburg standen zum Beispiel zwischen der Nazi-Zeit, in der Menschen wie Roland Freisler dort eingetragen waren und der Zeit danach lediglich fünf leere Seiten – sonst nichts. Inwiefern hat sich die Beschäftigung der Uni mit ihrer Vergangenheit seit den 1960ern verändert?

Die Vergangenheit wurde sehr stark verdrängt. Nicht, weil alle Professoren ehemalige Nazis gewesen wären, sondern weil es so eine Art Korpsgeist gab. Man wollte nicht, dass die Alma Mater „beschmutzt“ wird. Die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ging erst in den 80ern los.

Auffallend für mich ist zum Beispiel, dass man sich nicht kritisch mit jemandem wie Heidegger auseinandergesetzt hat, in dessen Philosophie man vielleicht schon früher totalitäre Tendenzen hätte festmachen können. Erst 2016, als die „schwarzen Hefte“ entdeckt wurden, fing man an, sich kritisch und distanzierter mit seiner Philosophie auseinanderzusetzen. Heidegger war bis dahin die heilige Kuh der Universität Freiburg.

Frank-Rutger Hausmann, Romanist und Historiker hat sehr viel zu dem Thema geforscht. Er hat dann auch, und ich denke das ist ein sehr klares positives Zeichen, vor ein paar Jahren das Bundesverdienstkreuz bekommen für seine Arbeiten zur Rolle der Geisteswissenschaften im “Dritten Reich”.

Können wir heute im Studierendenalltag noch irgendwo Spuren der 68er finden?

Ohne ‘68 wäre die Uni heute nicht so wie sie ist. Die Studentenbewegung hat sich vor allem auf die Formen der Lehre und des Lernens ausgewirkt. Eine größere Mitbestimmung in universitären Gremien haben die Studierenden allerdings nicht erkämpfen können.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir zu meiner Studienzeit in der Germanistik Seminare selbst organisiert und auch geleitet haben. Die Vorbereitungsphase in den Semesterferien war sehr intensiv. Ich kann heute sagen, dass ich in keiner Veranstaltung so viel gelernt habe wie in diesen Seminaren.

Ist die 68er Bewegung in ihren Zielen – in Deutschland und auch Freiburg – gescheitert?

Ja, wenn man den Ansatz nimmt, dass sie die Gesellschaft und das politische System verändern wollte. Sie haben aber überall trotzdem weitreichende Spuren hinterlassen. Leider ist ‘68 heute zum Schlagwort geworden. Gerade in konservativen Kreisen sind die 68er zum Synonym geworden für Aufruhr.

Man könnte sagen, dass es auch heute ein recht großes Frustrationspotential unter Studierenden gibt. Es gibt eine politische Unzufriedenheit und Unsicherheit, Wut über eine gefühlte Arroganz von Politikern, die sich nicht mit Studierendenbelangen abgeben wollen, rechte Politiker werden wieder in Parlamente gewählt.

Davon abgesehen werden auch die Fahrpreise der VAG mit schöner Regelmäßigkeit immer weiter erhöht. Warum entsteht jetzt keine „neue 68er Bewegung“?

Ich bedauere es sehr, dass heute alles hingenommen wird. Warum nichts passiert? Damals konnte man noch „Feinde“ beim Namen nennen, die Springer-Presse, die Deutsche Bank oder die ThyssenKrupp AG, die Waffen im dritten Reich produzierte. Heute haben wir Aktiengesellschaften. Die Welt ist immer undurchsichtiger geworden – gegen wen soll man sich heute richten?

Vielleicht ist es auch eine Vereinzelung der Leute. Jeder versucht irgendwie durchzukommen. So schnell wie möglich durchs Studium und dann einen guten, interessanten Job bekommen. Resignation wird durch die Fun-Gesellschaft mit pausenlosen Events aufgefangen. Natürlich bin ich auch müde geworden, aber als der Irak-Krieg unter Bush losging oder als sich hier eine Nazi-Kundgebung angekündigt hat, bin ich auf die Straße. Die Nazis wurden damals eingekesselt und mussten frustriert wieder abziehen. Es muss natürlich alles gewaltfrei bleiben, aber ich finde, gewissen Tendenzen in der Gesellschaft muss man die Stirn bieten.

Die ‘68er Bewegung hat sich selbst als sehr progressiv, ja revolutionär gesehen. Hat sich diese fortschrittliche Haltung auch auf das Frauenbild erstreckt?

Nein, ich glaube nicht – vor allem nicht bei den männlichen Protagonisten. Da zeigt sich, dass die Strukturen gegen die sich die Studierenden dieser Bewegung gewandt haben doch auch in ihnen fortlebten. Die meisten kamen ja aus Familien, in denen die traditionellen Geschlechterrollen festgeschrieben waren. Es gab durchaus auch Frauen die in der Bewegung aktiv waren, aber heute fallen immer wieder die gleichen Namen: Dutschke, Langhans, Meins und so weiter. Das Thema wird gerade aber noch besser aufgearbeitet.

Ein Teil der 68er Bewegung hat sich später in der RAF radikalisiert. Konnte man eine solche Tendenz in Freiburg auch beobachten?

In Freiburg gab es keine richtig radikale Szene die RAF Strukturen gehabt hätte. Was man in Freiburg sehr stark mitbekommen hat, das war die die Angst vor dem Terrorismus, viele Razzien, aber auch die zum Teil unsinnige Anwendung des Radikalenerlasses.

Als mein älterer Bruder damals zusammen mit Freunden spät am Abend aus einer Kneipe in Herdern kam, standen dort fünf oder sechs Polizeiautos und Polizisten mit Maschinenpistolen in der Hand und es hieß: „Hände hoch“. Der Wirt hatte bei der Polizei angerufen und gesagt: „Holger Meins sitzt hier am Tisch!“

Mehr zur 68er Bewegung auf uniCROSS

Spuren von 68

Häuser und Themen besetzen

Foto: Staatsarchiv Freiburg Signatur W 134 Nr. 085241b/Willy Pragher
Porträt Dr. Leithold: Jörg Blum
Veröffentlicht am 11. Oktober 2018

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