“Unseren kostbaren Frieden teilen”

“Unseren kostbaren Frieden teilen”

„Nie geht es nur um Vergangenheit“: Gesammelte Zeitzeugenberichte skizzieren die Zeit zwischen 1933 und 1945 im Dreiländereck. Anna hat mit Dan Shambicco, Mitherausgeber des Buches, darüber gesprochen, was ein Blick in die Vergangenheit eigentlich für die Zukunft bedeutet.

Dan Shambicco ist Mitherausgeber des Buches “Nie geht es nur um Vergangenheit”.

Herr Shambicco, Sie haben das Buch gemeinsam mit Wolfgang Benz und Johannes Czwalina verfasst. Wie kam es zu dem Gemeinschaftsprojekt?

Wir sind alle drei Teil der Gedenkstätte für Flüchtlinge zur Zeit des zweiten Weltkrieges in Riehen, bei uns in der Schweiz. Wolfgang Benz ist im Kuratorium, Johannes Czwalina, der Initiator der Gedenkstätte und ich sind Leitungsmitglieder. Ich bin außerdem spezifisch verantwortlich für die Gespräche mit den Zeitzeugen sowie für Führungen, zum Beispiel mit Schulklassen. Der Wunsch die Geschichten von Zeitzeugen niederzuschreiben und in einem Buch zusammenzufassen wurde dann auch von Besuchern und Zeitzeugen an uns herangetragen.

Viele Menschen, vor allem Juden versuchten zwischen 1933 und 1945 aus dem Deutschen Reich in die Schweiz zu flüchten. Wie hat die Schweiz darauf reagiert?

Generell kann man sagen, dass die Flüchtlingspolitik der Schweiz kalt war, man konnte die strenge Abweisungspolitik wirklich spüren. Über genaue Zahlen sind sich auch die Historiker uneinig, aber es sind auf jeden Fall sehr viele Abgewiesene. Es gibt auch ganz klar Protokolle, in denen man nachverfolgen kann, dass jemand über die Grenze gekommen ist, derjenige abgewiesen worden ist und dann später in Auschwitz ermordet wurde. Die Schweizer wollen auf ihrer Neutralität beharren, aber in dem Fall kann man meiner Meinung nach nicht sagen, dass sie neutral waren. Für mich ist Wegschauen keine Neutralität. Aber man muss auch betonen, dass es sehr viele Leute gegeben hat, die Flüchtenden geholfen haben, besonders in Basel. Gleichzeitig gab es aber auch genug Sympathisanten mit den Nazis. Schließlich haben nahezu viertausend Nationalsozialisten in Basel gelebt und die Allgemeinheit hat das doch einigermaßen toleriert.

Die allgemeine private Hilfsbereitschaft war relativ groß, die staatliche von ängstlichem Sicherheitsdenken dominiert. (Jean-Pierre Meylan ist Zeitzeuge)

Welche Bedeutung hatte dabei das ,Dreiländereck‘?
Basel und das Dreiländereck waren schon damals relativ weltoffen und sozialistisch geprägt. Die Regierung aus Basel hat die Anweisungen aus Bern nicht so umgesetzt, wie sie es hätten tun müssen. Dadurch war Basel als guter Fluchtort bekannt. Was sicherlich entscheidend war, war die Eiserne Hand, ein Waldstück an der Grenze, das nicht mit dem Grenzzaun verbaut wurde. Es war deutschlandweit bekannt als das Loch im Zaun, als grüne Grenze, über die die Flüchtlinge fliehen konnten. Auch die Bahn war ein Grund, die damals noch ohne Halt von Lörrach nach Riehen und Basel gefahren ist. Zeitzeugen berichten, wie Leute hinter der Grenze abgesprungen sind.

Das Buch ist vor allem eine Sammlung von persönlichen Geschichten und Erfahrungen. Warum sind gerade diese so wichtig für die Erinnerungskultur?

Das ist vor allem wichtig, weil das jetzt die letzten Zeitzeugen sind, die unter uns leben. Viele der Zeitzeugen haben vorher noch nie ein Interview geführt, wie beispielsweise eine Frau aus der Basler Hitlerjugend mit der wir gesprochen haben. Es gibt so viele Geschichten, die noch unerforscht sind, wir haben uns Mühe gegeben, möglichst viele von diesen Geschichten zusammenzutragen. Wir wollten uns mit dem persönlichen Bezug von anderen Büchern abheben.
So haben wir zum Beispiel auch die Stimme des einfachen Riehener Bürgers zu Wort kommen lassen, der erlebt hat, wie die Flüchtlinge ankamen. Oder auch das relativ unbeschwerte Leben einiger, die damals Kinder waren. Wir wollten alle Facetten aufzeigen und so haben wir die Zeitzeugen auch ausgewählt.

Im Sommer hatten wir auch an Lagerveranstaltungen der HJ teilgenommen. Die erste fand nach Kriegsbeginn in Freiburg im Breisgau statt. Mit Musikbegleitung und euphorischem Jubel der Bewohner marschierte die HJ durch die Stadt. Bis heute verstehe ich nicht, wie diese Leute behaupten können, dass sie nicht bei diesen Ereignissen dabei waren. (Die Zeitzeugin verbrachte ihre Kindheit in Basel, ihr Vater war Mitglied der NSDAP)

Der Titel des Buches ist „Nie geht es nur um Vergangenheit“. Welche Bedeutung haben die persönlichen Erzählungen für uns heute?

Das ist für uns fast der wichtigste Punkt. Wir wollen damit gerade auch ein jüngeres Publikum ansprechen. Ich frage das auch immer bei den Führungen: Das ist jetzt siebzig Jahre her, warum steht ihr jetzt hier in dieser Gedenkstätte? Aber Zivilcourage und Mut, das sind Themen, die immer aktuell bleiben, die sich auch immer wiederholen werden. Auch heute sieht man wieder, dass sich vieles wiederholt, was sich so nicht wiederholen müsste. Sei es in der heutigen Politik, sei es auch im immer noch existierenden Antisemitismus. Aber auch zwischenmenschliche Aspekte spielen immer wieder eine Rolle.

Wir sind überzeugt, dass ein Blick in die Vergangenheit immer einen Mehrwert für die Zukunft bringt und dass wir aus der Vergangenheit heraus lernen können, wie Versöhnung stattfinden kann. Auch wir drei Autoren stehen für diese Versöhnung. Ich als Jude bin mit zwei Deutschen Mitherausgeber eines Buches über den Holocaust. Es ist immer wichtig, einen guten Blick nach hinten zu haben, aber eben auch einen guten Blick nach vorn.

Ich bin überzeugt, dass in Zeiten gemeinsamer Gefahr, wie der Krieg eine für alle war, die aus der Not geborene Solidarität stärker und wirksamer ist als alle sozialen, rassischen, religiösen und nationalen Barrieren. Das gilt auch für die Barriere des Antisemitismus. Denn in dem Krieg, den wir überlebt haben, waren nicht nur die Juden in Gefahr, sondern der Mensch war in Gefahr. Er ist immer in Gefahr, nicht nur im Krieg. (Dr. Ernst Follender hat den Einmarsch Hitlers in Wien erlebt)

Unsere Gesellschaft scheint im Moment wieder besonders gespalten zu sein. Was ist daran so gefährlich?

Menschen haben Angst vor Veränderung. In den Städten, wie zum Beispiel Berlin, oder auch Basel oder Zürich, wo man das Multikulti gewohnt ist, in denen es mehr Ausländer gibt, ist die Angst kleiner, auf dem Land ist sie größer.

Ich denke, dass die Leute sich zu wenig mit der Vergangenheit aber auch mit dem Leben, mit dem Menschen allgemein auseinandersetzen. Für mich ist das immer eine grundsätzliche Frage: Warum sind wir in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz, wo es uns an nichts mangelt, nicht imstande, einfach in Frieden zu leben?

Gewisse Parteien oder Leute meinen, sie müssten anfangen zu hetzen und sich rassistisch oder antisemitisch zu äußern. Gerade in einer Gesellschaft, in der man im Reichtum lebt und in der alles sehr ordentlich und gut läuft, haben die Menschen umso mehr Angst vor Veränderung. Dabei ist es doch so: In Deutschland und der Schweiz leben Juden, Muslime und Christen zusammen und es läuft friedlich. Deshalb verstehe ich das nicht, wenn die Leute nicht kapieren, dass es für uns alle das Beste ist, in einer von Toleranz geprägten Gemeinschaft zu leben.

Ich bin der Meinung, dass wir heute den Flüchtlingen gegenüber eine andere Haltung einnehmen sollten. Wir müssen unseren kostbaren Frieden teilen. (Eine Zeitzeugin aus Lörrach)

In den Berichten im Buch wird mehrmals die Aussage „Das Boot ist voll“ zitiert, welche sowohl damals in der Schweiz üblich war, als auch heutzutage wieder eine gängige Floskel in der Diskussion über Geflüchtete ist. Was sagen Sie diesbezüglich zur momentanen Abschottungspolitik Europas?

Ich glaube, wie bereits erwähnt, das hat viel mit Angst zu tun. Ich sehe das so, dass Menschen in Not einfach aufgenommen werden müssen, aber ich bin auch der Meinung, dass man gut überdenken muss, wie man das macht. Man sollte auch im Interesse der Flüchtlinge über deren Zukunft in diesem Land nachdenken. Die Stimmen die dann fragen, warum so viele kommen, kann ich schon auch manchmal verstehen. Wenn wir Flüchtlinge aufnehmen, muss man meiner Meinung nach dafür sorgen, dass sie Arbeit bekommen und ein Teil der Gesellschaft werden können.

Gleichzeitig muss man sich bewusstmachen, was es bedeutet, wenn Menschen zurückgewiesen werden. Das merkt man, wenn man die Zeitzeugenberichte über die Situation in der Nazizeit hört. Wie die Beamten Menschen eiskalt zurück zur Grenze geschickt haben. Sowas bleibt auch im Innern haften. Ich habe einmal ein Interview mit einem Zöllner gesehen, der im Interview angefangen hat zu weinen. Der wird das nicht mehr los, dass er einmal eine Familie zurückgewiesen hat.

Ist Ihnen noch ein besonderer Moment aus den Zeitzeugengesprächen in Erinnerung geblieben?

Einmal war eine Auschwitz-Überlebende bei uns in der Gedenkstätte. Sie hat uns erzählt, wie sie vor Mengele stand und es gab zwei Richtungen, entweder im Lager weiterarbeiten oder zur Vergasung. Er hatte sie schon rübergeschickt zur Vergasung und dann ist sie mit gebrochenem Deutsch zu ihm gekommen und meinte, ich kann noch arbeiten und er hat seine Entscheidung widerrufen und sie ins Arbeitslager gesendet.

Das Eindrücklichste für mich war dann aber, als ich bei ihr Zuhause war. Da liegt ein Perserteppich und man kommt rein und sie meint, die Schuhe kannst du anlassen, das spielt keine Rolle. Man merkt, die Frau hat materielle Dinge losgelassen. Ich habe richtig gespürt, sie weiß worauf es im Leben ankommt. Das macht echt Eindruck und hat mir persönlich auch für mein Leben viel gegeben. Man empfindet eine extreme Dankbarkeit, wenn man mit so einem Menschen ein paar Stunden verbringt und dann nachhause kommt, den Kühlschrank öffnet und da ist was drin. Man bekommt ein völlig neues Verhältnis zum Leben und das ist für mich auch ein Kernpunkt des Buches: Dankbarkeit.

Als Lehre aus dem Krieg habe ich mitgenommen, dass jeder Mensch das kostbare Gut seiner eigenen unverwechselbaren Persönlichkeit pflegen und verteidigen muss. Wir dürfen unser eigenständiges Denken nicht von anderen Menschen beeinflussen lassen. Wichtig ist, dass man sich immer ein eigenes Bild verschafft und nicht der Masse folgt. (Die Zeitzeugin musste als Halbjüdin vor der Gestapo fliehen)

Die Zitate stammen von Zeitzeugen aus dem Buch “Nie geht es nur um Vergangenheit: Schicksale und Begegnungen im Dreiland 1933-1945”, herausgegeben von Johannes Czwalina, Wolfgang Benz und Dan Shambicco, erschienen am 31. Oktober 2018 im Dittrich Verlag.

Info

Was: Lesung aus dem Buch „Nie geht es nur um Vergangenheit“

Wann: 13.12.2018 um 18.30 Uhr

Wo: UB Freiburg

Weitere Lesungen des Buches gibt es in Lörrach, Basel, Liestal, Riehen, Berlin, Frankfurt a. M., Bonn und Leipzig.

Fotos: Dokumentationsstelle Gemeinde Riehen, Amt für Kantons- und Stadtplanung (Teaser)
Anna Greule (Porträt)
Autoren:
Veröffentlicht am 22. November 2018

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