Zwischen Vielfalt und Einheit

Zwischen Vielfalt und Einheit

Als Reaktion auf den Dokumentarfilm Vulva 3.0 hat die Studentin und Fotografin Rahel Locher ein Fotoprojekt ins Leben gerufen, mit dem sie die Vielfalt der Vulven zeigen möchte. uniCROSS sprach mit ihr über die Entstehung des Projekts, Reaktionen auf ihre Arbeit und die weibliche Sexualität.

Sie liegt auf einem gynäkologischen Stuhl, den man sonst von den Routinebehandlungen beim Frauenarzt kennt. Als Kopfunterlage dient eine grüne Wolldecke. Vor ihr kniet eine Frau mit kurzen, platinblonden Haaren, die sie mit einer Haarspange zur Seite gesteckt hat. Sie trägt einen blauen OP-Kittel und zieht eine Dosis Betäubungsmittel auf.

Dann setzt sie die Spritze an, kurz danach kommt eine andere Spritze zum Einsatz, in der Macrolane, eine Hyaluronsäure-Art, enthalten ist. „Jetzt ist es gut. Also jetzt finde ich es perfekt!“, lacht die Ärztin und reicht der Patientin einen kleinen Handspiegel, damit sie sich ihr Werk anschauen kann. „Die ist schön!“, ergänzt sie, holt eine Spiegelreflexkamera heraus und fotografiert die perfekte, nach amerikanischem Vorbild gestaltete Vulva.

Das ist die Einstiegsszene im Dokumentarfilm „Vulva 3.0 – Zwischen Tabu und Tuning“. In diesem Film geht es um die Optimierung der Vulva mit Hilfe der Schönheitschirurgie. Verschiedene Personen, wie eine Aktivistin gegen weibliche Genitalverstümmlung, mehrere Publizistinnen und eine Medizinhistorikerin sprechen darin über die Zensur der Vulva-Darstellung, das Zelebrieren der Vulva und der damit verbundenen weiblichen Sexualität.

Rahel hat das Fotoprojekt ins Leben gerufen.

Für die Fotografin, die an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg Englisch und Politik auf Lehramt studiert, war dieser Film der Auslöser für ihr Fotoprojekt, mit dem sie die Vielfalt der Vulva zeigen möchte.

Nachdem sie den Film gesehen hatte, redete sie lange mit Freundinnen und Freunden über Intim-OPs und Schönheitsideale. Dass es scheinbar ein Bestreben nach Perfektion in Bezug auf das weibliche Geschlecht gibt, war für sie schockierend.

Mit ihren Fotos möchte Rahel zeigen, dass es eben keine Norm oder die perfekte Vulva gibt, sondern dass jede Vulva anders aussieht.

„Ich hatte bis jetzt auch eher immer das Gefühl, dass sich die meisten Frauen gar nicht mit ihrer Vulva beschäftigen. Wie viele Frauen sehen denn Vulven von anderen Frauen? Wenn also die Vergleiche fehlen, wie können Frauen dann denken, dass ihre Vulva nicht der Norm entspricht? Genau an diesem Punkt wollte ich ansetzen und habe ich mich gefragt, was ich machen kann. Es wäre doch sehr spannend, diesem Streben nach Perfektion mit einem Projekt entgegen zu wirken.“

Das weibliche Geschlecht in seiner Vielfalt sichtbar machen

Nina ist eine gute Freundin von Rahel. Als Rahel sie fragte, ob sie beim Fotoprojekt mitmachen möchte, musste sie erst einmal eine Nacht darüber nachdenken. „Mein Kopf hat auf der einen Seite direkt gesagt, da möchte ich mitmachen, und auf der anderen Seite wurde mir dann doch bewusst, dass das etwas sehr Intimes ist.“

Wir unterhalten uns über Sexualität und die Wahrnehmung der männlichen und weiblichen Geschlechtsteile. „Frauen* werden anders sozialisiert und wachsen zum Großteil immer noch anders auf als Männer*. Durch herrschende Strukturen und den öffentliche Umgang mit dem weiblichen Geschlechtsorgan sind Frauen* dahingehend  oft schneller eingeschüchtert und haben das Gefühl etwas stimmt nicht mit ihnen. Es wäre schön, wenn die Vulva bzw. die ganze Vulvina irgendwann mit der gleichen Intensität betrachtet werden würde, wie der Penis.“

Sie sieht den Grund, wie die Gesellschaft und Frauen mit ihrem Geschlechtsorgan umgehen darin, dass Männer – vor allem in machtvollen Positionen – unabhängig ob aus wissenschaftlicher, normativer, christlicher oder moralischer Perspektive, dazu beigetragen haben, die weibliche Sexualität zu definieren, zu beschneiden und einzuschränken und dies bis heute tun.

Für Nina ist klar, dass wir auch über den Körper gleichberechtigt sprechen beziehungsweise ihn gleichberechtigt und vielfältig betrachten müssen, wenn wir eine gleichberechtigte Gesellschaft schaffen wollen. „Fähigkeiten und Eigenschaften werden bis heute über das Geschlecht und das Sexualorgan definiert. Das Projekt von Rahel ist ein kleiner, aber wichtiger Teil in diesem Prozess, das weibliche Geschlecht in seiner Vielfalt sichtbar zu machen.“

Neben der Darstellung der Vielfalt möchte Rahel mit ihrem Fotoprojekt ermächtigen, ihre einzigartige Schönheit zu entdecken. Diese Haltung steuert dem Zwang zur Selbstoptimierung entgegen.

Ein ganz anderer Blickwinkel

Rahel nimmt sich viel Zeit für die Frauen, die bei ihrem Projekt teilnehmen. Sie will eine Atmosphäre schaffen, in der sich alle wohlfühlen. Deshalb finden die Fotosessions an dem Ort statt, an dem sich die Frauen wohlfühlen. Manchmal ist das bei Rahel zuhause, andere möchten die Fotos lieber in ihren eigenen vier Wänden entstehen lassen. Sie möchte einen sicheren Ort schaffen, bei dem alle Beteiligten die Atmosphäre aufnehmen können und sich genauso ungefiltert verhalten und äußern können, wie sie sich gerade fühlen. „Für jede Frau bringt das Fotografieren ihrer Vulva andere Herausforderungen mit sich.“

In Rahels Arbeitszimmer stehen zwei große Bildschirme, auf denen sie ihre Bilder bearbeitet. Das Licht an diesem Platz ist perfekt, weil durch ein kleines Dachfenster genau die Lichtmenge hereinfällt, die sie zum Arbeiten braucht. Auf den ersten Blick erkenne ich nicht, dass es eine Vulva ist, die dort auf dem Bildschirm zu sehen ist. Es sind schwarz-weiß-Aufnahmen mit einem starken Kontrast, in die man alle möglichen Formen hinein interpretieren kann.

Als Nina zum ersten Mal die Bilder von ihrer Vulva gesehen hat, war sie beeindruckt. Sie hat sich zwar „untenrum“ schon angeschaut, aber auf dem Foto ist es doch ein ganz anderer Blickwinkel. „Es war auch irgendwie lustig! Man unterhält sich darüber, man sieht Dinge darin. Eine Aufnahme sah für mich zum Beispiel so aus, als ob da eine Maria die Arme ausbreitet. Es gab dann auch verschiedene Aufnahmen, bei denen die inneren Lippen geschlossen und einmal auch offen sind. Wie unterschiedlich eine einzige Vulva auf allen Aufnahmen aussehen kann, ist wirklich faszinierend.“

Gemischte Reaktionen auf das Fotoprojekt

Welche Reaktion sind Nina im Freundeskreis begegnet, als sie erzählte, dass sie beim Fotoprojekt mitgemacht hat? „Es war sehr gemischt. In meiner Mädelsgruppe habe ich sehr viele positive Rückmeldungen bekommen und auch mit einem guten Freund habe ich mich lange darüber unterhalten, der das Thema auch sehr spannend fand.“ Manche sagten auch, dass sie sich niemals vorstellen könnten, selbst mitzumachen, weil es ihnen zu intim sei.

Die Reaktionen auf Rahels Projekt waren zum großen Teil sehr positiv, aber natürlich standen auch einige ihrem Vorhaben eher kritisch gegenüber. Von Reaktion wie: „Tolle Aktion und wichtig, ich mach sehr gerne mit“ bis „Rahel, ist das eigentlich dein Ernst, richtig ekelhaft! Das ist nichts, was man auf Fotos zeigen sollte“, war eigentlich alles dabei.

Aber wie Nina gibt es auch Frauen, die von der Idee begeistert sind. Und diese Begegnungen mit den Frauen sind das, was für Rahel das Projekt so einzigartig und prägend macht: „Es ist nicht nur ein Erlebnis, sondern mit jeder Frau hast du wieder eine eigene Erfahrung. Eine neue Reaktion auf die Bilder von ihrer Vulva – das ist alles sehr spannend.“

Rahel würde gerne eine großformatige Ausstellung der Vulva-Fotos organisieren, die in Kombination mit einem kleinen Vortrag über Intim-Operationen und woher der Druck kommt, einer Norm zu entsprechen.

„Das ist zwar total amerikanisch, aber es ist schön!“ – das ist die letzte Einstellung der Intim-Schönheitschirurgin. Sie verlässt den Raum. Es wird ganz still, man hört nur noch das dumpfe Surren der Geräte. Jetzt gibt es wieder eine scheinbar perfekte Vulva mehr.

V!

Gar nicht so einfach über eigentlich Alltägliches zu sprechen. uniCROSS hat sich die Tabus rund um weibliche Themen zum Anlass genommen, genauer hinzuschauen. In den kommenden Wochen rücken wir mit dem „V! Project“ die Vulva, die Menstruation und die Verhütung in den Mittelpunkt.

Alle bisher erschienenen Beiträge gibts hier: archiv.unicross.uni-freiburg.de/V!-Project

Foto: Katja Hackmann
Veröffentlicht am 4. Juli 2019

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