„Wir standen auf der Straße und haben nach der Freiheit geschrien“

„Wir standen auf der Straße und haben nach der Freiheit geschrien“

Die Eltern von uniCROSS-Autorin Julia standen mit 21 auf der Straße in Dresden und haben für Freiheit demonstriert. Heute leben sie im Süden Deutschlands. Wie haben sie den Mauerfall erlebt und wie blicken sie auf die Jahre in der DDR zurück?

Wie war es in der DDR aufzuwachsen?

Jens Krönert: Die Kindheit in der DDR war sehr behütet. Die Mütter gingen bereits kurz nach der Geburt wieder arbeiten, so war man manchmal den ganzen Tag in einem Kinderhort. Trotzdem war unsere Kindheit für uns relativ normal. Man hat sich wenige Gedanken darüber gemacht.

Gundula Krönert: Ich kenne meine Mutter auch gar nicht daheim. Mir hat dabei aber trotzdem nichts gefehlt. Als wir älter wurden, waren fast alle aus der Klasse bei den Jungpionieren und später bei den Thälmann-Pionieren. Man kannte das aber auch nicht anders, das war dein Umfeld.

Bekam man die Mangelwirtschaft zu spüren?

J: Man hat sie schon gespürt, bestimmte Dinge waren einfach nicht verfügbar oder man musste lange dafür anstehen. Manche Dinge konnte man nur über Beziehungen bekommen.

G: Es wurde auch viel getauscht. Meine Mutter arbeitete zum Beispiel im Stoffladen und eine Bekannte im Lebensmittelladen. Wenn es dann Bananen gab, wurden welche zurückgelegt, um diese dann später mit Stoffen zu tauschen.

Wann kam für euch der Wendepunkt, an dem ihr anfingt, das System anzuzweifeln?

G: Ich war in der 9. Klasse und hatte in Staatsbürgerkunde oft erzählt bekommen, wie böse der Westen ist und wie schlecht der Kapitalismus. Im Westen müsse jeder seine Behandlungen beim Arzt selbst bezahlen, ähnliches bei der Bildung. Als ich dann mit meiner Familie in Ungarn war, lernten wir eine Familie aus dem Westen kennen, die uns erzählte, dass man auch im Westen vom Staat unterstützt werde. Als ich das in Staatsbürgerkunde erzählte, wurde mir gesagt, ich solle nicht auf so etwas hören.

J: Ich glaube auch, dass man sich besonders als Jugendlicher nicht mehr vorstellen konnte, das ewig mitzumachen. Man hatte das System verstanden und konnte die Bevormundung wahrnehmen. Bei mir war es noch etwas spezieller, da mein älterer Bruder versuchte aus der DDR zu flüchten. Der Versuch scheiterte und er musste in das Gefängnis. Ich war in der 9. Klasse und erlebte hautnah mit, was es für eine Familie in der DDR bedeutete, wenn einer das System nicht mehr mitmachen wollte. Ab diesem Zeitpunkt funktionierten Dinge nicht mehr so, wie sie vorher funktioniert hatten.

Wie habt ihr die Demonstrationen in der DDR erlebt?

G: Für mich war da ein einschneidendes Erlebnis, als ich mit Jens auf einer großen Demonstration in Dresden war. Züge aus Prag, in denen Bürger der DDR saßen, welche in die BRD ausreisen durften, sind an diesem Tag durch Dresden gefahren. Die Stimmung in Dresden war sehr angespannt. Ich war 20, auf der Straße und hatte vorher nie Probleme mit der Polizei gehabt, weswegen mir Polizisten auch nie aufgefallen waren. Aber an diesem Tag, als ich sah wie die Polizisten mit Schlagstöcken, Knüppeln und Wasserwerfern gegen uns vorgegangen sind, bekam ich Panik und fragte mich in welche Richtung das alles gehen würde.

J: Es war damals eine revolutionäre Stimmung, wir standen auf der Straße und haben nach der Freiheit geschrien.

Was bedeutet euch Freiheit?

J: Freiheit bedeutet uns sehr viel. Man war damals in vielen Dingen reglementiert, man war gebunden in der Berufswahl, man war eingeengt in seinem Denken und Handeln und man wurde dazu erzogen in das Bild zu passen. Das Gefühl der Freiheit war besonders am Anfang nicht greifbar. Ich war einen Tag nach dem Mauerfall in Westberlin und es war einerseits wie ein Traum, andererseits war man wie im Schockzustand. Man konnte diese Freiheit erst nach und nach begreifen.

Sollte der Tag der deutschen Einheit deutschlandweit mehr Aufmerksamkeit bekommen?

J: Ich glaube, dass lässt sich nicht so leicht sagen. Es ist einfach ein ganz besonderer Tag für das ganze Land – Ost und West – so etwas hinzubekommen und so friedlich. Aber wenn man sagt, man sollte diesen Tag überall, in Ost und West gleich feiern, finde ich das schwierig. Ich verstehe die Leute hier, dass es schwer ist das alles nachzuvollziehen, wenn man nicht dabei war. Es ist ähnlich, wenn uns unsere Eltern vom Krieg und dem Hunger erzählen. Man kann es nachvollziehen, aber doch nicht verstehen. Ähnlich kann man nur schwer die Bedeutung von Freiheit verstehen, wenn man sie immer hatte.

► Alle Beiträge zur Themenwoche 30 Jahre Mauerfall

Foto: Julia Krönert
Veröffentlicht am 8. November 2019

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