Filmkritiken “SCHLAF” und “Exil”

Filmkritiken “SCHLAF” und “Exil”

Albträume von einem schnaubenden Wildschwein, Psychoterror mit toten Ratten – die Filme, die Valentina und Paul heute vorstellen, haben es in sich. Warum ihr sie trotzdem anschauen solltet, hört und lest ihr hier:

Ratten, Hitze und die Verletzlichkeit der Identität

Visar Morinas Film “Exil” überzeugt auf der Berlinale mit einem satirischen Drama über einen Pharmaingenieur, der plötzlich privat und auf der Arbeit das Gefühl kriegt, systematisch angefeindet zu werden.

Wildschweinträume

Am 6. Tag bin ich zum ersten Mal im CUBIX-Kino am Alexanderplatz und sehe mir „Schlaf“ an, ein Film von Michael Venus, der in der Sektion Perspektive Deutsches Kino läuft.

Eine Mutter wird ständig von Albträumen geplagt, von denen sie glaubt, sie seien Wirklichkeit. Um den Schauplatz dieser Beklommenheit zu ergründen, reist ihre Tochter in ein abgelegenes Dorf und stößt auf ein tödliches Familiengeheimnis.

“SCHLAF – Wer beschützt dich, wenn du träumst” läuft ab 6. August im Kino

Mit seinem keilförmigen Kopf und dem braun-schwarzen Borstenfell, das seinen Körper bedeckt, steht es mir gegenüber. Es schnaubt bedrohlich. Ich schaue tief in seine dunklen Augen. Eine Frau mit Kurzhaarschnitt krümmt sich vor Angst keuchend neben mir auf dem Boden des verwüsteten Zimmers. Marlene heißt sie. Im nächsten Moment ist alles schwarz.

Vollkommen abwesend und regungslos liegt Marlene in einem Pflegebett im Krankenhaus. Ich sehe den besorgten Blick ihrer Tochter Mona, die vergebens versucht mit ihrer Mutter zu reden. Mona setzt sich in den Bus und fährt in ein einsames Dorf. Sie will verstehen, was die düsteren Kritzeleien ihrer Mutter zu bedeuten haben. Im Dorf angekommen führt der überfreundliche Hotelbesitzer Otto Mona in jenes Zimmer, das ihre Mutter im Wahn zuvor zerstört hatte. Mona mietet sich in dem sonst völlig gastlosen Hotel ein.

In einer Nacht sehe ich Mona beim Schlafen zu. Ich schaue aus dem Fenster neben ihrem Bett und erkenne eine bleiche blonde Frau im roten Kleid. Ihr Anblick lässt mich erschaudern. Es muss etwas mit der aus Holz geschnitzten Wildschweinfigur zu tun haben, die das Zimmermädchen Franzi in Marlenes Verwüstung aufgefunden hat.

Am Tag folge ich Mona die Treppen hoch bis zum Dachboden des Hotels, von woher seltsame Geräusche wie von herumrückenden Möbeln kommen. Es stehen nur wenige Kisten und Gerümpel herum, der Großteil des Raums ist leer. Im nächsten Moment hängt ein toter Mann vom Gebälk herunter. Selbstmord. Mona hastet die Treppen hinunter aus dem Hotel heraus in den Wald. Ich sehe es ihr an, sie glaubt zu werden wie ihre Mutter.

Mona findet zwei weitere Tote vor, als Otto sie mit einer Axt in der Hand durch das Hotel führt. Dessen Frau Lore bindet ihn nachts immer mit Schlingen am Bett fest. Sie haben auch einen Sohn, Christoph, der Mona in die örtliche Karaokebar mitnimmt.

Plötzlich ist wieder alles schwarz. Ich betrachte Monas von einem künstlichen Licht angestrahlten nackten Körper und wie sich Christoph und die anderen Entblößten über sie beugen. Darunter ist auch die bleiche blonde Frau, die ihr etwas einhaucht.

Maßlose Völlerei, zwanghafte Würgerei, achtlose Trinkerei, hilflose Graberei und ganz am Ende steht es wieder da – das schnaubende Wildschwein.

Ich halte den Atem an, denn „Schlaf“ hat es in sich. Michael Venus‘ Regiedebüt ist Psychothriller und Horrormärchen zugleich. Eine spannende Mischung, die sich im deutschen Kino bisher wenig zeigt. Venus‘ Inszenierung macht sich dadurch absolut sehenswert, dass sie eher schlicht ist und sich nicht mit einer Vielfalt an vorhersehbaren Spezialeffekten à la Hollywood schmückt. Hinter der Fassade des Traditionshotels im Wald steckt aber weitaus mehr als die Symbolik des bedrohlichen Wildschweins. Das Heimatidyll verbirgt eine grausame NS-Vergangenheit, die nach Jahren endlich ans Licht kommen soll. Verstörend, gruselig, aber ein Film mit nachhallender Tragweite.

► Alle Beiträge zur Themenwoche Berlinale 2020

Veröffentlicht am 27. Februar 2020

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