Regisseur Hirokazu Kore-Eda über Wahrheit und Respekt

Regisseur Hirokazu Kore-Eda über Wahrheit und Respekt

Es ist Tag acht, oder irgendetwas in der Art. Zumindest fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Ich habe mir für heute keine Kinotickets besorgt und bin gerade auf dem Weg zur einzigen Veranstaltung meines Tages. Es ist ein einstündiges Gespräch zwischen den beiden Meisterregisseuren Ang Lee (Brokeback Mountain, Tiger & Dragon, Life of Pi) und Hirokazu Kore-Eda (Shoplifters, Still Walking).

Die Meisterregisseure Ang Lee und Hirokazu Kore-Eda

Die Meisterregisseure Hirokazu Kore-Eda und Ang Lee

Seit mein Vater mir Kore-Edas bewegendes Drama „Nobody Knows“ gezeigt hat, in dem ein 12-Jähriger sich in Tokyo alleine um seine drei kleinen Geschwister kümmern muss, habe ich fast jeden seiner Filme hierzulande im Kino geschaut und bin zu einem großen Liebhaber seiner pointierten Familiendramen geworden. Umso nervöser betrete ich die Akademie der Künste, da ich anschließend an den Talk noch die Möglichkeit erhalten habe Kore-Eda zu interviewen. Das Gespräch, das im Rahmen der „On Transmission“ Reihe stattfindet, ist professionell moderiert und gibt einen Einblick in die Arbeitsweisen der Filmemacher. Während Ang Lee sehr ausschweifend über die Melancholie des asiatischen Kinos, die Schwierigkeiten in einer anderen Sprache zu arbeiten und die Faszination mit Literaturvorlagen erzählt, hält sich Kore-Eda – wie man es klischeemäßig von einem japanischen Regisseur erwarten würde – etwas schüchtern und mit sehr viel Bescheidenheit zurück. 

Anschließend werde ich in einen abgelegenen Raum geführt, neben Kore-Eda erwartet mich dort bereits seine Übersetzerin und zu allem Überfluss ist auch Ang Lee im Raum anderweitig beschäftigt, so dass ich während meines Gesprächs nicht die Möglichkeit habe, mich umzugucken ohne dabei noch angespannter zu werden. Der bedeutungsschwangeren Szene gerecht werden, sitzen wir an einem großen Holztisch gegenüber. Dramatisches Licht malt noch tiefere Ringe unter meine Lider. Ich habe aber das Gefühl, dass nicht nur ich mich etwas unangenehm in dieser Situation fühle, sondern auch der Regisseur mir gegenüber. Ich nehme das Mikrofon etwas weiter von ihm weg bevor wir beginnen.

Paul: Ihr letzter Film trägt den Titel „La Verité“, übersetzt heißt das „Die Wahrheit“. Wahrheit ist ja ein häufiger Begriff in der Filmwelt. Wo liegt in ihren Werken die Wahrheit?

Kore-Eda: In einem Satz?

Paul: Wie lange es braucht.

Kore-Eda: Ich glaube, dass sich die Wahrheit zwischen den verschiedenen Tatsachen und Lügen irgendwo versteckt.

Paul: Ihre Filme behandeln die Figuren immer sehr respektvoll. Tragen Filmemacher*innen eine Verantwortung gegenüber ihren Charakteren?

Kore-Eda: Ja tatsächlich ist es so, dass ich immer versuche, die Figuren respektvoll zu behandeln. Deshalb freut es mich sehr, dass Sie das auch so empfunden haben. Egal ob es sich um gute oder schlechte Personen, Kinder oder auch Erwachsene handelt, sollte man immer respektvoll mit ihnen umgehen. Das heißt natürlich nicht, dass man alle schön darstellen sollte, als gute Personen, sondern dass man sie auch mit ihren Schwächen zeigt. Aber dass man eben nicht mit der Einstellung rangeht, diese Person wird eigentlich gar nicht gebraucht, die muss eigentlich gar nicht existieren.

Paul: In Ihren Filmen gibt es viele kleine Momente, wie zum Beispiel die Fingerübung in Shoplifters. Wo finden Sie diese Momente?

Kore-Eda: Was die Szene in Shoplifters betrifft, mit diesem kleinen Ritual, das ja alle Familienmitglieder machen bevor sie klauen, das hat etwas damit zu tun, dass diese Familie keine Blutsverwandten sind. Deswegen wird etwas anderes weitergegeben, vom Vater zum Sohn und dann zu Eri, der kleinen Schwester.

Bevor Kore-Eda Fragen beantwortet, überlegt er erst lange, kehrt kurz in sich. Dann lässt er alles in einem Fluss heraus. Die Übersetzerin schreibt schnelle Kritzeleien nieder, die ich nicht verstehe, ihr aber scheinbar helfen, den Sätzen zu folgen.

Paul: Neben den Ritualen gibt es auch oft Orte und Veranstaltungen wie zum Beispiel Feuerwerke in „Unsere Kleine Schwester“ und „Shoplifters“. Können solche Orte neben Ritualen auch Verbindungen für die Figuren sein?

Kore-Eda: Ja es ist tatsächlich so, dass ich diese Momente einfach sehr gerne mag, in denen die Menschen Zeit miteinander verbringen. Bei Shoplifters ist es das Haus, in dem sie zusammen wohnen. Oder in den anderen Filmen ist es zum Beispiel ein buddhistisches Ritual, das gemeinsam durchgeführt wird. Das sind auch Momente, wo sie die Gelegenheit haben sich besser zu verstehen. Oder vielleicht auch nicht, und stattdessen streiten sie sich einfach. Das finde ich interessant und einfach schön.

Als die Übersetzerin fertig geredet hat, will ich eigentlich schon die nächste Frage stellen, Kore-Eda redet aber direkt weiter.

Kore-Eda: In den Familiendramen wird ja gemeinsam auch eine gewisse Zeit verbracht zum Beispiel im Haus. Man hat auch Erinnerungen, aber nicht alle haben dieselben. Es sind immer nur bruchstückhafte Erinnerungen, jeder hat sich etwas anderes gemerkt, die werden aber miteinander geteilt und das wird dann auch an die nächste Generation weitergegeben.

Paul: Was sollte denn an die nächste Generation von Filmemacher*innen weitergegeben werden?

Kore-Eda: Natürlich bin ich bereits in dem Alter, in dem ich darüber nachdenken muss, was ich an die nächste Generation weitergeben kann. Und da geht es selbstverständlich darum, dass man ein gutes Umfeld dafür schafft, Filme zu machen. Aber momentan befinde ich mich dennoch in der Situation, dass ich sehr viel von anderen Filmemacher*innen lernen kann und möchte, Vieles einfach aufsaugen will. Und dass ich mir da noch gar nicht so viele Gedanken, um die neue Generation machen konnte.

Insgesamt ist aber zu sagen, dass die japanische Filmindustrie sich sehr nach Innen wendet. Dass immer weniger junge Regisseur*innen ins Ausland gehen. Und dass eben das Umfeld oder die Bedingungen dafür nicht geschaffen werden, und ich würde gerne meinen Beitrag dazu leisten, dass die junge Generation auch im Ausland arbeiten kann.

Ich bedanke mich höflich. Leider sind die wenigen Minuten schon vorbei und die nächste Redakteurin betritt den Raum. Leise packe ich meine Sachen und verlasse eilig das Zimmer. Auf dem Weg bringe ich nur ein kratziges, halb verschlucktes „Thank You“ an Ang Lee heraus, der sich etwas irritiert zu mir umguckt.

► Alle Beiträge zur Themenwoche Berlinale 2020

Fotos: Paul Stümke
Autoren:
Veröffentlicht am 29. Februar 2020

Empfohlene Artikel