uniFM Halbjahres-Charts: Grimes vs. Yves Tumor

uniFM Halbjahres-Charts: Grimes vs. Yves Tumor

Das einzig Gute an 2020 ist die Musik. Um die besten Platten des bisherigen Jahres zu würdigen, stellen Redakteur*innen zwei ihrer Alben des Halbjahres gegenüber und müssen sich für eines entscheiden. Heute: Max Keefer über die Zukunft.

Ein neues Jahrzehnt verlangt nach neuen Ideen. Kein Wunder also, dass Anfang 2020 gleich mehrere Platten ein neues Zeitalter ausrufen wollten. Herausstechen konnten dabei vor allem zwei Künstler*innen, Grimes und Yves Tumor, die mit avantgardistischem Anspruch zwei Konzeptalben abgeliefert haben, die beide mitbestimmen könnten, wie die 20er klingen werden.

Bei Grimes führt der globale Einfluss der Menschheit zur absoluten Ablehnung ihrer Individuen. Diesen Motiven, Misanthropie und Anthropozän, entwächst das Namensgebende Alter Ego Miss Anthropocene. Das fünfte Studioalbum der Sängerin und Produzentin wurde im Februar nicht nur von Fans mit hohen Erwartungen antizipiert: Mit den ab Januar 2019 veröffentlichten Vorboten wurde schnell klar, welchen Anspruch die Künstlerin selbst an ihr neustes Werk hatte. Die Hingabe und der Aufwand hinter den selbst produzierten Artworks und Videos in dystopischer Cyborg-Ästhetik waren schonmal eine Ansage.

Thematisch waren die Singles ein Rundumschlag in die Magengruben der prominenten Gesellschaftskonflikte: Künstliche Intelligenz, Überwachungsstaat, Digitalisierung und Technisierung, Gender-Rollen und Klimawandel. Das alles findet auf Miss Anthropocene seinen Platz, und deshalb trifft das Album wohl oder übel den berühmt-berüchtigten „Nerv der Zeit“. Jeder Konflikt führt dabei allerdings zur selben Pointe: Zur Menschheit als Ursprung allen Übels. Und hier liegt die vielleicht größte Stärke des Konzeptalbums: Grimes schafft es, die völlig überdimensionierte Auswahl an Motiven in der Perspektive ihrer Kunstfigur zu bündeln. Alle Texte vereint der vor Nihilismus triefende und egozentrische Blick der Miss Anthropocene, und so verschiebt sich der Fokus auf eine subtile Charakterstudie der fiktiven Cyborg.

Auch klanglich werden auf Miss Anthropocene transhumanistische Ästhetiken und Futurismuskonzeptionen umgesetzt. Hierbei bedient sich Grimes maßgeblich am Cyberpunk. Das dystopisch-technizistische wird mit nostalgisch beladenen Elementen versehen und abgewrackt. Auf der Soundebene zeigt sich das in ausschließlich digitalen, klaren und synthetischen Sounds rund um Noise und avantgardistischen Electronic. Die werden wiederum in sphärische 80s-Synths gebettet oder mit Distortion-Gitarre untermalt. Das Album klingt visuell. Grimes Vision eines neuen Zeitalters klingt technizistisch und dreckig.

Auch Heaven To A Tortured Mind ist ein Album mit ziemlich genauen Vorstellungen von Zukunft. Ab der ersten Sekunde ruft Yves Tumor das „New Century“ aus, das keine Götter mehr braucht, sondern Yves Tumor. Das dritte Album des Sängers und Produzenten lässt sich in vielen Punkten mit Miss Anthropocene vergleichen. Auch HTATM kommt mit atemberaubenden Artworks und Musikvideos daher, auch hier werden nostalgische und experimentelle Elemente vermischt, und auch hier steht eine Kunstfigur im Mittelpunkt. Doch diese Figur wendet sich nicht von Nihilismus zerfressen ab von der Menschheit, sondern zu ihr hin.

Yves Tumor kreiert einen verführerischen Messias. Tumor gibt sich als selbsternannten Superstar und inszeniert seine Persona als Erlöserin der Hörenden: „I think i can solve it, i can be your All, aint no problem, Baby“. Dabei ist er entbunden von allen Limitationen der binären Welt, die Stimme eines fluiden Körpers. Die transhumanistische Motivik wird nicht technisch, sondern philosophisch umgesetzt. Das Album steht deutlich in der Tradition der alten Rockstars, mit überdimensioniertem Glamour und Gottkomplex. Auf „Kerosene!“ wird nicht umsonst Prince gehuldigt. Analoge Instrumente und klassische Sampletechnik werden auf den 13 Songs mit sphärischen Zukunftsklängen kombiniert. Dadurch entsteht der einzigartige Sound des Albums, das seine Zeitlichkeit zwischen verklärter Nostalgie und Zukunftsvision völlig verliert. HTATM schwebt losgelöst von Raum und Zeit, wie Gottes Geist über dem Wasser.

Sowohl HTATM als auch Miss Anthropocene könnten auf ihrem jeweiligen Gebiet wegweisend für die musikalische Entwicklung im Laufe des Jahrzehnts werden. Grimes‘ Album ist schon jetzt fest in der Musiklandschaft verankert. Zu Recht, denn sie macht eigentlich alles richtig: Gesellschaftskritik, ein paar Experimente, ein bisschen Mainstream. Miss Anthropocene kann und will überzeugen. Aber Yves Tumor kann verführen. Sein Album ist selbstverliebte Romantik, klug umgesetzt und ohne den Anspruch eines Jahrhundertwerks. Yves Tumor schafft die perfekte Gratwanderung zwischen Pop und Avantgarde. Und genau das macht HTATM zur runderen Platte. 

von Max Keefer

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Veröffentlicht am 20. Juli 2020

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