uniFM Halbjahres-Charts: Fiona Apple vs. Soccer Mommy

uniFM Halbjahres-Charts: Fiona Apple vs. Soccer Mommy

Das einzig Gute an 2020 ist die Musik. Um die besten Platten des bisherigen Jahres zu würdigen, stellen Redakteur*innen zwei ihrer Alben des Halbjahres gegenüber und müssen sich für eines entscheiden. Heute: Farina Kremer und die ungleiche Entwicklung zweier Therapie-Alben.

Kein gutes Album kommt ohne Emotionen aus. Soccer Mommy, aka Sophie Allison, und Fiona Apple haben ihre Emotionen zum Kernthema ihrer Werke gemacht. Sowohl Allisons Color Theory als auch Apples Fetch the Bolt Cutters haben Therapiecharakter. Nur wie diese Therapie verlaufen ist, unterscheidet sich grundlegend.

Soccer Mommy beginnt ihre Therapie im Opener  “Bloodstream” ganz klassisch mit ihrer Kindheit. Sie singt zunächst von glücklichen Erinnerungen. Dabei schwingen aber immer psychische Probleme mit. Im Mittelpunkt stehen ihre Depressionen, die sie in vielen Songs wie “Circle the Drain” und “Royal Screwup’ aufgreift. 

Musikalisch ist Color Theory das Equivalent zu Schlafzimmeraugen: Sphärische Töne füllen die Melodie, die zwischen akustischen und elektrischen Gitarren hin und her gereicht wird. Es ist ein düsteres Album, auch im Vergleich zu ihrem Debüt Clean. Ihre Stimme ist zurückhaltend, gibt ihren Songs aber eine Wärme, die der Musik oft fehlt.

Fiona Apple’s Fetch the Bolt Cutters hingegen ist alles andere als zurückhaltend, es beweist Mut. Sie entblößt sich wie es sich in einer produktiven Therapie gehört. Auch sie stellt intime Emotionen in den Mittelpunkt ihres Werkes. Sie verbindet diese aber auch mit größeren gesellschaftlichen Themen. So schreibt sie mit “Newspaper” ein platonisches Liebeslied an die Partnerin eines Mannes mit dem sie eine Affäre hatte und beschwert sich auf “Under the Table” über eine Dinnerparty, auf die sie gar nicht gehen wollte. Dabei dampft sie ihre Message so stark ein, dass man ihr nicht entgehen kann.  

Klanglich ist fast jeder Song auf Fetch the Bolt Cutters ein Sprung ins Wurmloch. Der Opener “I Want You To Love Me” beginnt wie eine klassische Klavierballade, die genauso von Regina Spector gesungen werden könnte, steigert sich am Ende aber zu einem verrückten Crescendo, bis Apple die Melodie völlig dekonstruiert.

Diese musikalische Abenteuerlust fehlt auf  Color Theory. Emotionales Highlight ist ‚Stain’. Simple, perkussive Gitarren erzeugen zusammen mit fast apathischen vocals eine Intensität, die dem restlichen Album in diesem Umfang fehlt. Hier verbindet sie zum ersten Mal erfolgreich ihre lyrische Therapiesitzung mit ihrer Musik.

Diese Verbindung ist Fiona Apple ausnahmslos gelungen. Sie geht mit Männern ins Gericht, mit gesellschaftlichen Strukturen und vor allem mit sich selbst. Sie beißt und kratzt sich durch diese Themen. Mit ihr kratzen und beißen ihre Stimme, ihre Hunde, ihr Haus, in dem sie jahrelang nach Klängen suchte, um dieses Album aufzunehmen. Deswegen ist Fetch the Bolt Cutters mit einer durchgängigen Perkussivität durchdrungen, die rhythmisch ist, aber auch ständig im Wandel und damit immer wieder in den Bann zieht. Apple bricht aus ihren Mustern aus und bleibt dabei nicht im Selbstmitleid hängen. Sie ist ironisch, leicht, depressiv, wütend, befreit und einsichtig. Ihre Therapie gelingt. Soccer Mommy braucht noch ein paar Sitzungen.

von Farina Kremer

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Veröffentlicht am 20. Juli 2020

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