Das einzig Gute an 2020 ist die Musik. Um die besten Platten des bisherigen Jahres zu würdigen, stellen Redakteur*innen zwei ihrer Alben des Halbjahres gegenüber und müssen sich für eines entscheiden. Heute: Joel Beierer auf der Suche nach Smoothness.
Weite Hallräume und Gratwanderungen zwischen Virtuosität und Pop-Appeal. 80er Jahre Synthieklänge sowie funky Basslines oder neo-soulige Gitarrenakkorde.
Trotz ihrer offensichtlichen Gemeinsamkeiten könnten die beiden Alben What kinda music und It is what it is wohl kaum unterschiedlicher klingen. Während Tom Misch & Yussef Dayes Kollabo-Album What kinda music sich wie eine entspannte Nachtfahrt entlang menschenleerer Küstenstraßen anfühlt, sitzt man bei It is what it is auf der Rückbank eines vollkommen überdrehten Stephen Brunner aka. Thundercat, der sich mit breitem Grinsen durch die unüberschaubaren Straßen L.A.s drängt, einmal schnell rechts überholt, links abbiegt und mit vollem Fuß aufs Gas tritt.
Liest man die Biographie von Thundercat, scheint es kaum verwunderlich, dass sein viertes Studioalbum wieder nur so vor eigenen Ideen und den Einflüssen musikalischer Gäste übersprudelt. Ob als Ex-Bassist einer Trash-Metal Band, oder als Produzent Kendrick Lamars Grammy-Album To Pimp a Butterfly – Thundercat lässt sich nur schwer in irgendwelche Schubladen packen. Und so stolpert der exzentrische Bassist gekonnt beschwipst durch eine Tracklist selbstironischer Liebeserklärungen und alberner Selbstdarstellungen, unruhiger Seelenzustände und Verlustthematisierungen aller Art. Nie bleibt er stehen, atmet mal tief durch und schaut sich das Ganze in Ruhe an – in fast schizophrener Getriebenheit kratzt er an den vielen Stoffen seiner schillernden Oberfläche.
Ganz anders dagegen das Londoner Musik-Duo aus R&B Musiker Tom Misch und Jazz-Drummer Yussef Dayes. Im Melting Pot des modernen Jazz finden der blauäugige Schmuse Sänger und der technisch versierte Jazz-Drummer zu einer stringenten Mischung aus atmosphärischer Eingängigkeit und vertrackter Groove Komplexität. Ihre Kollaboration fördert dabei das Beste des jeweils anderen zu Tage: Während Tom Mischs Debut-Album Geography an vielen Stellen zu glatt und ausproduziert klang, profitiert What kinda music von der rohen, ungeschliffenen Energie Yussef Dayes und gewinnt dadurch ungemein an Tiefe. Besonders deutlich wird das beim Song I did it for You, dessen repetierte gesangliche und harmonische Phrase nur durch den stark groovenden Puls Yussef Dayes davor bewahrt wird in den Kitsch abzudriften. Immer wieder vollenden hier die rhythmischen Fundamente und langen Jam-artigen Instrumentalpassagen, das noch nicht ganz ausgereifte, oft zu klare Song-Writing. Zurückhaltend in ihrer Aussage und konsequent in ihrem Sound schaffen die beiden Ästheten hier einen gekonnten Spagat zwischen Virtuosität und Pop.
Es bleibt nicht nur die Entscheidung zwischen schizophrener Vielseitigkeit und einfacher Stringenz, zwischen schillernden Neon-Farben und dreckigen Pastelltönen. In erster Linie will ich, wenn ich Alben höre, in eine Welt eintauchen. In eine Welt, die hält was sie verspricht, sich ihrer Grenzen bewusst ist und mir die nötige Zeit lässt sie zu erkunden. It is what it is schafft in seiner flickenartigen und unvollständigen Konzeption leider kein rundes Gesamtbild, sondern nur kleine Ausblicke, die so schnell an mir vorbeirauschen wie sie gekommen sind. Sowohl soundtechnisch als auch thematisch wirkt das Album deswegen an vielen Stellen vollkommen überfrachtet und trotzdem unvollständig. Die größere Konzentration und Ruhe von What kinda Music, seine cineastische Tiefe und improvisierte Leichtigkeit machen das Album trotz verhältnismäßig geringem narrativen Outcome zu dem vollkommeneren Gesamtwerk.
von Joel Beierer
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Veröffentlicht am 20. Juli 2020