Lässt die Bundesregierung die Protestierenden im Stich?

Lässt die Bundesregierung die Protestierenden im Stich?

Am östlichen Rande Europas brodelt es: Hunderttausende Menschen gehen Woche für Woche in Belarus gegen ein autoritäres Regime auf die Straße. Immer wieder kommt es zu heftigen Konfrontationen mit den Sicherheitskräften. Bürgerrechtler und Oppositionspolitikerinnen werden auf offener Straße verhaftet und verschleppt. 

Gregor Lischka von uniCROSS hat mit dem Slawistik-Professor Heinrich Kirschbau über die Proteste gesprochen. Heinrich Kirschbaum ist eng mit der belarussischen Kulturszene verbunden und befindet sich derzeit in Berlin, um an Solidaritätsaktionen mit den belarussischen Protestierenden teilzunehmen. 

Herr Professor Kirschbaum, warum kommt es ausgerechnet jetzt, nach 26 Jahren Lukaschenko-Regime, zu so großen Protesten in Belarus?

Große Proteste fanden auch schon früher – 2006 und 2010 – statt. Nach den immer wieder gefälschten Wahlen trafen sich bereits damals Leute auf dem Minsker Oktoberplatz und auf dem Platz der Unabhängigkeit, bis die Zeltlager dann mit brutaler Gewalt geräumt wurden. Und dieselben 20.000 – 30.000 Demonstranten, die 2006 und 2010 dabei waren, bilden auch den Kern der heutigen Proteste. Damals waren es nicht zuletzt übrigens die Kulturschaffenden, die sich an den Protesten beteiligten: Künstler, Literaten, Philosophen. Sie wurden verhaftet, verprügelt, mussten das Land verlassen. Einige Politiker und Journalisten wurden bereits Ende der 90er Jahre verschleppt und auch ermordet. Also das Ganze hat eine Vorgeschichte. 

Heute ist das Ausmaß natürlich anders. Heute ist nicht mehr eine Minderheit auf der Straße, sondern die Mehrheit. Und dazu kommt noch ein weiterer, wichtiger Unterschied zu früheren Protesten: Damals fanden die Proteste nur in Minsk statt, heute ist das ganze Land von Protesten und Empörungen erfasst. 

Und dafür gibt es vielerlei Gründe: Das Land lebte und lebt immer noch vor allem von russischen Investitionen und Darlehen.  Die Bevölkerung verarmt, man kann kaum eigene wirtschaftliche Initiativen entfalten. Und natürlich gibt es auch ideelle, kulturelle Gründe für die heutigen Proteste: Junge Menschen wollen eine europäische Zukunft des Landes sehen.

In Ihrer Arbeit beschäftigten Sie sich vor allem mit der Kulturszene von Belarus und anderen osteuropäischen Ländern: Welche Rolle nehmen die Kulturschaffenden denn bei den aktuellen Protesten ein?

Sie sind unabdingbarer Teil der Proteste – und noch viel mehr. Kein Protest kann ohne Slogans und vor allem ohne Lieder auskommen: Lieder der polnischen Streikbewegung Solidarność werden ins Belarussische übersetzt, der Chor der Philharmonie singt täglich auf den Straßen und in den großen Einkaufshallen.

Alle Schauspieler und Mitarbeiter des wichtigsten Theaters des Landes, des Kupala Theaters, haben gekündigt nachdem ihr Direktor gefeuert wurde. Abends finden in den Neubaugebieten spontane Konzerte statt – Natürlich nur solange bis die Polizei kommt und die Leute vertreibt oder punktuell sogar verhaftet. 

Drohen den Kulturschaffenden dann nicht ähnliche Konsequenzen, wie anderen politischen Führungsfiguren in Belarus, die auf offener Straße verschleppt werden?

Kunstschaffende haben mit denselben Repressalien zu rechnen, wie auch die anderen Protestierenden. Sie können verhaftet, misshandelt oder getötet werden. Vor ein paar Tagen wurden während der Protestaktionen gegen die Verschleppung der Bürgerrechtlerin Maria Kolesnikowa drei Bekannte von mir verhaftet: Uladzimir Liankievič, Hanna Komar, Sjartschuk Medwedew – alle sind Mitglieder des belarussischen PEN-Zentrums, eines großen Autorenverbands. 

Eine wichtige – und zwar nicht nur symbolische – Rolle spielt natürlich auch die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die Leiterin des Autorenverbands PEN und Mitglied des Oppositionsrats des “Koordinationskomitees zur Überwindung der politischen Krise“. Sie ist momentan die Einzige aus dessen Präsidium, die noch nicht verhaftet ist. Am Morgen des 09. Septembers gab es einen Versuch, auch sie zu verhaften. Und nur weil Journalisten und ausländische Diplomaten, also Botschafter von Polen, Litauen, Schweden und der Slowakei schnell zu ihrem Haus eilten, haben die Spezialeinheiten die ganze Aktion unterbrochen.

Wie ist denn die Reaktion der deutschen Außenpolitik Ihrer Meinung nach einzuordnen? 

Zum Einen braucht man in Belarus die Unterstützung des Westens  – und insbesondere von Deutschland – dringend! Und wenn wir von Deutschland sprechen, dann kommt diese Unterstützung vor allem von Kulturschaffenden und Journalisten. Von der Politik kommt mit Ausnahme der Grünen wenig. Es wurden keine richtigen Sanktionen verhängt. Übrigens zögert die Bundesregierung auch im Falle des Attentats auf den russischen Oppositionspolitiker Nawalny. Indem Deutschland weiter heuchlerisch zwischen politischen und wirtschaftlichen Ebenen unterscheidet, finanziert es das Putin-Regime mit, welches sich nun auch in Belarus einmischt und Lukaschenko unterstützt.  

Also man sollte die Dinge wirklich beim Namen nennen: Sowohl im Falle von Belarus, als auch im Falle von Nawalny handelt es sich seitens der deutschen Bundesregierung nicht um Untätigkeit, sondern um Mittäterschaft.

Foto: Nina Weller
Veröffentlicht am 14. September 2020

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