Charlie Keller – Promofake oder DDR-Spacepop-Cinderella?

Charlie Keller – Promofake oder DDR-Spacepop-Cinderella?

Die uniFM-Musikredakteure Max Keefer, Jan Knöferl und Maximilian Heß sitzen wie viele im Corona-Home-Office. Das hält sie aber nicht davon ab, via Messenger über aktuelle Themen der Pop-Welt zu diskutieren. Heute: Die Charlie Keller-Story.

Der Stand bisher: Das Label Tapete Records hat einen Song veröffentlicht, der von einer Charlie Keller stammen und 1978 in der DDR entstanden sein soll. Der Song ist dem Astronauten Sigmund Jähn gewidmet. Mehr ist nicht über die Künstlerin oder die Entstehung bekannt und das Label hat eine Kampagne gestartet, um die anonyme Künstlerin zu finden.

 
Max K.: Das Ganze regt natürlich dazu an, den Track zu teilen: “Oh ein verschwundenes revolutionäres Tape aus den 70ern, vlt kannte ja meine Grossmutter/Tante/Cousine 3. Grades diese Charlie” – so kriegt man einen Song wahrscheinlich auch unter Leute, wenn er absolute Grütze ist. Obwohl “Ich, Sigmund Jähn” dazu auch noch wirklich gut ist.

Jan: Und genau damit beginnt das große Rätselraten. „Ich, Sigmund Jähn“ ist ein hervorragend produzierter Song. So hervorragend, dass man meinen könnte, der Song wäre das Produkt einer neugegründeten Ostalgie Band, die sich die Geschichte um Charlie Keller als netten Marketing Gag ausgedacht hat.

Max H.: Du meinst sowas, wie damals mit Fraktus?

Max K.: Fraktus?

Max H.: Das war Promo-Stunt der Studio Braun-Leute um Heinz Strunk, Jaques Palminger und Rocko Schamoni, die behauptet haben, sie wären eine der wichtigsten Techno-Bands der Frühphase deutscher elektronischer Musik gewesen. War Blödsinn, brachte Aufmerksamkeit und Fraktus ist tatsächlich keine schlechte Band…

Max K.: Das würde zu einer Theorie passen, die um “Ich, Sigmund Jähn” kursiert: Einige vermuten hinter Charlie Keller schon Erobique und Yvon, die sind ja auch schon immer im Dunstkreis um Fraktus und Jaques Palminger unterwegs. Das würde vom Produktionsstil und Stimme ganz gut passen – allerdings wird von all diesen Künstler*Innen niemand bei Tapete Records gelistet.

Jan: Jetzt mal ganz abgesehen von irgendwelchen Label-Strukturen: Schaut man sich die historischen Fakten an, wird die ganze Hintergrundgeschichte immer unglaubwürdiger. Der Song soll im Februar ’76 aufgenommen worden sein, der titelgebende Kosmonaut Sigmund Jähn wurde erst im Mai ’76 ins Raumfahrtprogramm aufgenommen und 78 dann ins Weltall geschossen. Also ich bezweifle ja, dass DDR-Künstlerinnen die Zukunft ähnlich akkurat voraussagen konnten wie die Simpsons.

Max H.: Dieses Argument habe ich auch gehört, aber da liegt wohl ein Missverständnis vor. Wenn ich es richtig verstanden habe wurde lediglich das Masterband 76 gekauft.

Max K: Wo du schon das Masterband ansprichst: diese Dinger sind/waren für den Heimgebrauch gedacht. Habt ihr schonmal in eine Laienproduktion aus der DDR reingehört? Es gibt z.B. Sampler mit Songs aus dem elektronischen Underground, die Soundqualität von solchen DIY-Produktionen ist ziemlich grausig. Dagegen klingt Charlie Keller nach High End. Die Aufnahme müssen also im professionellen Studio entstanden sein.

Max H.: Der Song klingt zweifellos unzeitgemäß, dafür dass er in den siebzigern entstanden sein soll. Aber (um dem Narrativ des Labels mal zu folgen) es hat ja auch einen Grund, wieso der Song unveröffentlicht blieb. Vielleicht war die Welt einfach noch nicht bereit?

Charlie Keller (mutmaßlich 1978)

Max K.: Ich glaube kaum, dass eine (vielleicht) visionäre Klangästhetik und viel zu klarer Sound ein Grund waren, diesen Song zurückzuhalten. Eine staatstragende Hymne auf einen Held aus der Arbeiterklasse, einen “Held der Sowjetunion”, tagesaktuell, das wäre doch ein Top Angebot mit Hitpotenzial gewesen – viel zu sexy, um es auf den Müll zu schmeißen. Zum Vergleich: David Bowie hat ’69 mit Major Tom seine komplette Karriere losgetreten.

Max K.: …ich muss mich übrigens korrigieren: Carsten “Erobique” Meyer hat tatsächlich Verbindungen zum Label, er ist unter dem Namen “Carsten & Carsten” mit Carsten Friedrich seit deren Debutsingle im August bei Tapete Records dabei. Auch Rocko Schamoni (Fraktus) ist solo dort unterwegs – vielleicht doch ne heiße Spur

Jan: Naja, ob das nun wirklich eine Hymne auf die Arbeiterklasse sein soll? Seinen Brei auf Ex lutschen und Teekännchen mit Mascha und Sandmännchen trinken klingen eher nach überspitzten Ironisierungen. Und spätestens nach einer Zeile wie „Wer kennt keine Grenzen mehr? Fliegt über Mauern her?“ hätten ja alle Sirenen der DDR Zensur angehen müssen. Vielleicht den Zeitgeist der westlichen Welt getroffen, aber nun mal nicht den der Zensurbehörde.

Max H.: Die Diskussion, ob das Fake ist oder nicht lenkt ja eigentlich nur von der spannenderen Frage ab: Taugt der Song und wäre er auch ohne diesen Hintergrund hörenswert?

Max K.: Klares ja von meiner Seite. Diese Idee vom ostdeutschen Schlager-Sequel zu Space Oddity ist so grandios absurd, dass der Entstehungszeitraum da der Freude prinzipiell keinen Abbruch tut. Ganz abgesehen vom Konzept find ich den Song auch instrumental einfach sehr gut gemacht: Obwohl der Vibe super entspannt ist, passiert da im Arrangement ganz schön viel – wir haben Klavier, Bass, drums, leadgitarre, klar, aber im Hintergrund wird dazu extrem viel mitgearbeitet – Effekte auf der zweiten Stimme, diverse synths, mind 2 zusaetzliche Gitarren, Filter usw. – ich glaube das macht den Song so modern bzw wie du sagtest “hörenswert”, obwohl harmonisch nicht allzu viel passiert.
Was mich auch catcht, ist, dass mir einfach kaum Referenzen einfallen , wonach das eigentlich klingt?

Max H.: Ach bitte, das ist doch in vielerlei Hinsicht formelhaft. Ein bisschen Space-Pop (gerade groß am Kommen), DDR-Referenzen für die Trainingsjacken-Kids und genug weirdness, dass die Schreiber*innen anfangen, sich zu interessieren. Man kann dem Ganzen auch durchaus einen gewissen Wunsch nach Gefälligkeit unterstellen

Jan: Ich verstehe gerade nicht ganz in welche Richtung du argumentierst. Meinst du, der Song damals hätte gut funktionieren wollen oder, dass er heute gut funktionieren will?

Max H.: Egal wann er entstanden ist, er ist perfekt für den Spätsommer 2020.

Max K.: … und ein ziemlicher Ohrwurm!


 

Fotos: Tapete Records
Veröffentlicht am 15. September 2020

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