Prokrastinieren als Folge von Reizüberflutung?

Prokrastinieren als Folge von Reizüberflutung?

Reizüberflutung betrifft viele – bewusst oder unbewusst. Die Auswirkungen sind häufig nicht greifbar. Kann die Reizüberflutung womöglich auch Schwierigkeiten im Lernalltag hervorrufen und eine Ursache für Prokrastination sein? Welche Möglichkeiten gibt es, sich dem zu entziehen?

Was ist eigentlich Reizüberflutung?

Hanna Sütterlin spricht mit Prof. Dr. Claas Lahmann über Reizüberflutung und ihre Folgen.

Für den Direktor der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie des Uniklinikums Freiburg kann Prokrastination durchaus eine Folge der Reizüberflutung sein, allerdings seien die Ursachen dafür oftmals vielfältiger. Viele Betroffene, die sich häufig einer Vielzahl von Reizen ausgesetzt fühlen, verlieren bei konzentrierter Arbeit schnell den Faden. Dann kann es passieren, dass sie ins Prokrastinieren geraten.

In einer 2018 erschienenen Umfrage aus Österreich klagten 43 Prozent der Befragten über starke, durch digitale Flut von Reizen ausgelöste Konzentrationsschwierigkeiten, zu denen auch oftmals das Prokrastinieren gehört.

Prokrastination: Wir warten bis es knapp wird …

Wer kennt das nicht: Die Abgaben für die Uni häufen sich und man sitzt trotz allem mal wieder nur vor dem Laptop und schaut sich eine Serie an? Auch für Sozialpädagogik-Studentin Senta ein bekanntes Problem: Erste Folge, nächste Folge … – doch die Arbeit wird nicht weniger. „Nach der Folge mache ich das! Am Ende des Tages habe ich dann nichts gemacht außer die ganze Staffel zu Ende geschaut.”

Gerade in Zeiten der Corona-bedingten Online-Lehre ist das Prokrastinieren eine Gefahr für Studierende. Die Folge: To-Do-Listen werden immer länger und der Druck steigt.

Prokrastination ist ein Begriff der in den letzten Jahren nicht nur in studentischen Kreisen an Bedeutung gewonnen hat. Doch was ist eigentlich Prokrastination? Matic Rozman arbeitet seit neun Jahren beim Studierendenwerk Freiburg und berät Studierende bei persönlichen Problemen, zu denen nicht selten auch Lernschwierigkeiten gehören. Für Rozman ist Prokrastination ein Aufschiebeverhalten beim Lernen, Studieren und selbstständigen Arbeiten. Er versteht das häufig auch als „Aufschieberitis” bezeichnete Phänomen als Teil einer Arbeitsstörung, der nicht nur ein Problem der Selbststrukturierung zugrunde liegen muss. Genauso können auch andere Ursachen, wie Probleme in Beziehungen, Depressionen oder Selbstzweifel Auslöser sein.

Ursachensuche

Der Haupt-Prokrastinationsfaktor ist für viele Studierende das Smartphone. Mal kurz eine Nachricht schreiben oder den Instagram-Feed checken, lenkt viele vom Lernen oder anderen wichtigen Aufgaben ab. Auch Moritz, Student der Wirtschaftswissenschaft, kennt das: „Dann bist du plötzlich gefangen, schaust dir irgendwelche Videos an und Zack ist eine Stunde vergangen. Manchmal auch mehr als eine Stunde. Dadurch verliere ich total viel Zeit mit unnötigen Sachen.”

Rozman zufolge fordern die äußeren Einflüsse, insbesondere die digitalen Medien mit denen wir ständig konfrontiert sind, eine hohe Disziplin und es ist nicht immer leicht, diesen Reizen zu entkommen. Alles um uns herum sei so angelegt, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Verhaltenstherapeutisch betrachtet ist es eine schnelle kleine Belohnung, die man sich mit dem Smartphone holen kann. Das ist dann sehr wirksam und kann sich auf Dauer schnell verfestigen.” Dadurch entstehe oft ein fälschliches Belohnungssystem.

Nicht nur undisziplinierte Social-Media-Süchtige, sondern auch Perfektionist*innen geraten ins Prokrastinieren. Laut Rozman spielen dabei ein hoher Anspruch an die eigene Leistung sowie Selbstzweifel eine Rolle. Betroffene wollen Misserfolge vermeiden und fangen den Berg an zu bewältigenden Aufgaben gar nicht erst an. „Es kommt vor, dass ich prokrastiniere und mich dabei gar nicht mehr entspannen kann, weil ich weiß, dass ich eigentlich etwas anderes tun sollte. Das heißt, ich fühle mich dabei und danach eher schlecht”, sagt Sport-Studentin Kathrin.

Bei Perfektionist*innen entstehe beim Prokrastinieren schnell der Zweifel, ob sie überhaupt für das, was sie gerade lernen, fähig genug sind. „Sich einer Aufgabe stellen und sie erfolgreich oder auch nicht erfolgreich zu bewältigen, würde schon eine kleine Antwort auf die Frage bringen: Kann ich was? Tauge ich was?”, erklärt Rozman.

Lernen unter Druck

Eine beliebte Ausrede von Medienkulturwissenschaft-Studentin Sarah ist: „Ich arbeite besser unter Zeitdruck.” Wie viele Studierende rechtfertigt sie damit ihr Aufschiebeverhalten. Daher lösen sich viele Betroffene erst von ihrer Serie, wenn die Zeit knapp wird.

Für Rozman ist das Aufschieben ein Schutz vor dem Scheitern. So kann die verhauene Prüfung schnell mit einem “Hätte ich doch …” entschuldigt werden. Wird die Prüfung aber bestanden, obwohl mal wieder erst die Nacht zuvor mit dem Lernen angefangen wurde, entsteht das Trugbild einer Win-win Situation, die sich im schlimmsten Fall auf die kommenden Lernphasen überträgt. Viele fragen sich dann, warum sie beim nächsten Mal drei Wochen vorher mit dem Lernen anfangen sollten. Diese Art der Konditionierung sitzt hier sehr fest.

Rozman hält ein gewisses Maß an Druck durchaus für förderlich, da weit entfernte Abgabefristen oder Klausurtermine häufig das Gefühl vermitteln, man müsse noch nichts lernen. Carola studiert Medienkulturwissenschaft und hat den Eindruck, „je mehr man zu tun hat, desto mehr ist man auch gezwungen sich zu organisieren, was man zu tun hat, um zeitlich alles zu schaffen. Dann vermeidet man auch das Prokrastinieren.”

Wenn im Hintergrund der Arbeitsstörung beispielsweise eine Depression oder eine andere schwerwiegende Problematik liegt, rät Rozman zu professioneller Hilfe. Er betont darüber hinaus aber, dass Studierende oft ein gutes Gefühl dafür haben, wenn etwas nicht stimmt und sich dann therapeutische Unterstützung suchen.

Bevor man zu einer Therapie geht, können dem Prokrastinieren zunächst auch einfachere Mittel entgegenwirken.

Das sind Tipps gegen Prokrastination:

1. Durch Routine mehr Disziplin

 

Die Lernphase wie einen Berufsalltag zu gestalten kann hilfreich sein: Morgens zur selben Zeit anfangen, mittags eine Stunde Pause und um 16 Uhr Feierabend machen. Für einige Studierende ist es hilfreich in der UB oder in Gruppen zu lernen, da die eigene Motivation aufgrund der Arbeitsatmosphäre steigt.

 

2. Äußere Struktur = innere Struktur

 

Manchmal helfen auch schon die kleinen Dinge: Den Schreibtisch aufzuräumen und nur die nötigsten Dinge darauf liegen zu haben, bringt Ordnung in den Lernalltag.

 

 

 

3. Lerntechniken

 

Die Pomodoro-Technik beispielsweise funktioniert so: 25 Minuten konzentriert arbeiten – 5 Minuten Pause. Diese Intervalle werden mehrfach wiederholt, wodurch Aufgaben einerseits fokussiert erledigt werden können, aber es andererseits auch nicht an Regeneration fehlt. Am besten verlässt man in den Pausen den Arbeitsplatz und geht an die frische Luft.

4. Smartphone als Hilfsmittel

 

Um der Ablenkung am Smartphone zu entgehen, gibt es nützliche Apps, die den Zugriff auf jegliche soziale Medien für einen selbst gewählten Zeitraum ganz einfach blockieren. So wird keine Zeit mehr auf WhatsApp oder Instagram vergeudet und dem Lernen steht nichts mehr im Weg.

5. Das Beste zum Schluss

 

Belohnungen nach dem erreichten Tagesziel ermutigen mit den unangenehmen Aufgaben anzufangen und auch dabeizubleiben. Je nach Lust und Laune kann das ein leckeres Essen oder das wohlverdiente Feierabend-Bier mit Freunden sein. 

 

 

Leonards Alltag ohne Smartphone

Wir wissen nun: Reizüberflutung und Prokrastination beruhen oft auf dem umfangreichen digitalen Angebot – insbesondere bei jungen Menschen. Für viele sind technische Geräte und ein Internetzugang fester Bestandteil des Lebens.

Der Freiburger Student Leonard zeigt, dass auch ein Leben unter Verzicht digitaler Plattformen funktionieren kann. Trotz seiner besonderen Einstellung zu Medien absolviert er zwei Vollzeit-Studiengänge parallel: Umweltnaturwissenschaft und Philosophie. In einem kurzen Portrait nimmt Leonard uns mit in seinen Alltag.

… nun aber genug prokrastiniert – auf geht’s, zurück an den Schreibtisch!

Eine Gemeinschaftsproduktion von Levin Meis, Hanna-Lisa Sütterlin, Lizanne Burkardt (Fotos) und Angela Droll im Rahmen des Seminars „Einführung in den crossmedialen Journalismus“ für Studierende der Medienkulturwissenschaft.

Seminarleitung, Redaktion: Ada Rhode, Silvia Cavallucci, Karsten Kurowski.

 
Veröffentlicht am 8. September 2020

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