Plötzlich muss Nina ihre Stuhlgewohnheiten bis ins kleinste Detail darlegen. Das fühle sich beschämend an, auch wenn es sich dabei um den behandelnden Arzt handele. Aber sie weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Nina ist 27 Jahre alt und hat seit Monaten Durchfall. Sie wacht nachts alle paar Stunden auf und schafft es kaum zur Toilette. Auch tagsüber hat sie ständig Bauchschmerzen und Durchfall bei jedem Toilettengang. Nach mehreren Untersuchungen steht schließlich fest: Nina hat Colitis ulcerosa.

Colitis ulcerosa und Morbus Crohn gehören zu den häufigsten chronisch entzündlichen Darmerkrankungen – kurz CED. Die Erkrankung mache sich häufig zum ersten Mal bei jungen Erwachsenen bemerkbar, könne jedoch in jedem Alter auftreten, sagt Prof. Peter Hasselblatt, Leiter der Magen-Darm-Ambulanz des Universitätsklinikums Freiburg. Typische Symptome seien Bauchschmerzen, häufige und anhaltende Durchfälle, in manchen Fällen Blut im Stuhl und Gelenkschmerzen.

Bevor die Diagnose „CED“ jedoch zweifelsfrei gestellt werden kann, müssen viele Untersuchungen durchgeführt werden. An erster Stelle steht die Anamnese, also das Arzt-Patienten-Gespräch zur Abklärung der Symptome, sowie das Abtasten des Bauchs. Es folgen Stuhl- und Blutuntersuchungen, dann eine Darm- und gegebenenfalls eine Magenspiegelung, also eine Endoskopie. Schließlich werden Gewebeproben aus dieser Endoskopie untersucht. Nur zusammengetragen ergeben die Untersuchungsergebnisse die Diagnose „CED“, chronisch entzündliche Darmerkrankung. Diese Untersuchungen dienen aber nicht nur der zweifelsfreien Diagnose. Laut Prof. Dr. Hasselblatt sei es wichtig, erst einmal mögliche andere Erkrankungen auszuschließen, die ähnliche Beschwerden verursachen können.

Einmal aufgetreten, verschwindet eine chronisch entzündliche Darmerkrankung nicht mehr. Colitis ulcerosa und Morbus Crohn sind nicht heilbar. Ziel ist es, dass Betroffene einen beschwerde- und entzündungsfreien Zustand erreichen, im Fachjargon auch „Remission“ genannt.

In der akuten Phase, wenn die Entzündung hoch und die Beschwerden groß sind, werden entzündungshemmende oder -verändernde Medikamente wie Mesalazin oder Cortison als Therapie eingesetzt. In fortgeschritteneren Therapien können die Botenstoffe, welche die chronischen Entzündungsprozesse am Laufen halten, gezielt mit Antikörpern aus dem Verkehr gezogen werden.

„Eine CED kann auf unterschiedlichste Weise in Erscheinung treten. Deshalb muss eine Therapie individuell angepasst werden, um die bestmöglichen Ergebnisse zu erzielen“, sagt Prof. Dr. Hannes Neeff, Leiter Kolorektale Chirurgie des Universitätsklinikums Freiburg.
Bei Morbus Crohn beispielsweise können alle Bereiche zwischen Mund und Anus entzündet sein, während Colitis ulcerosa auf den Dickdarm beziehungsweise Teile davon begrenzt ist. So sind Dünndarm-Crohn und Dickdarm-Crohn zwei völlig unterschiedliche Erkrankungen. Je nach Ausprägung der Erkrankung können die Symptome auch durch einen operativen Eingriff verbessert werden. Früher sei oft erst operiert worden, wenn bereits ein Darmdurchbruch vorlag. Zu einem Durchbruch solle es jedoch gar nicht erst kommen, betont Prof. Dr. Neeff, da die Behandlung nach einem Durchbruch schwierig sei und eine Therapie geringere Aussichten auf Erfolg habe.

CED-Betroffenen komme zugute, dass in den letzten zehn Jahren große Fortschritte in der Chirurgie erzielt wurden, so Prof. Dr. Neeff. Die Schlüsselloch-Chirurgie sei beispielsweise eine moderne, minimalinvasive Operationstechnik, bei der nur kleinste Schnitte nötig seien und sich Patienten nur etwa fünf bis sieben Tage schonen müssen.

Auch tagelanges Hungern vor einem Eingriff gehöre der Vergangenheit an. Laut Prof. Dr. Neeff erhole sich der operierte Darm nämlich deutlich besser, wenn er bis kurz vor dem Eingriff weiterhin mit Nährstoffen versorgt werde, anstatt in einen Hungerzustand zu geraten. Mittlerweile sei es sogar üblich, Patienten wenige Stunden vor und nach der OP hochkalorische Getränke zu verabreichen, um die Regeneration des Darms zu unterstützen.

Trotz der positiven Entwicklung der Behandlungsmöglichkeiten fühlen sich Betroffene nach ihrer Diagnose oft machtlos und der Erkrankung ausgeliefert. „Eine erfolgreiche Behandlung hängt jedoch nicht nur von Medikamenten oder operativen Eingriffen ab“, erklärt Prof. Dr. Hasselblatt. Betroffene können gezielt zur Besserung der Symptome beitragen, vor allem durch einen gesunden Lebensstil. Dazu gehören beispielsweise regelmäßige körperliche Aktivität und eine ausgewogene Ernährung. Doch was genau bedeutet das in der Praxis?

Bei ihrem ersten Arztgespräch nach der Diagnose wird Nina mit Begriffen wie „mediterrane Ernährung“, „hochprozessierte Lebensmittel“ und „enterale Nahrungsaufnahme“ konfrontiert. Wer sich etwa „mediterran ernährt“, nimmt einen hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren, Ballaststoffen und Antioxidantien zu sich. Diese Ernährung gelte deswegen auch als anti-entzündlich und könne helfen, die Darmgesundheit zu unterstützen, hat Nina von ihrem behandelnden Arzt erfahren. Konkret heißt das, dass Obst und Gemüse, hochwertige Fette wie Olivenöl sowie überwiegend frische Lebensmittel im Vordergrund stehen sollten. Rotes Fleisch – wie etwa Rind- oder Schweinfleisch – sei nicht empfehlenswert für den täglichen Speiseplan.

Hochverarbeitete Lebensmittel sollen gemieden werden, da die enthaltenden Konservierungsstoffe, Süßungsmittel, Emulgatoren und Stabilisatoren Entzündungen im Darm fördern können. Dazu gehören beispielsweise Fertiggerichte, Snackprodukte oder süße Getränke, so Cordula Groß, Landesbeauftragte des LV Sachsen und Patientenvertreterin bei der DCCV, der Deutschen Morbus Crohn / Colitis ulcerosa Vereinigung.

Diese Ernährungsempfehlungen klingen zunächst einfach – sind sie aber keineswegs. Nina hat selbst erfahren, dass sie auch frische Lebensmittel manchmal nicht verträgt. Während des sogenannten Schubs, also der Phase mit hoher Entzündung, sind nämlich viele Lebensmittel oft unverträglich.

Nina erinnert sich noch gut an ihren ersten Gang zum Supermarkt nach ihrer Diagnose. Jede Packung drehte sie um, um sich die enthaltenen Lebensmittel und die Nährwerttabelle anzuschauen. „Ich geh noch schnell einkaufen“ konnte sie vergessen. Auch in die Mensa oder ins Restaurant gehen, wurde auf einmal zur Herausforderung. Überall gab es Lebensmittel oder Zubereitungsarten, die Nina nicht mehr vertrug.

Bemerkt sie zum Beispiel nicht, dass in einem Gericht Zwiebeln verarbeitet wurden, muss sie kurze Zeit später dringend zur Toilette. Ihr erstes Weihnachtsfest mit Colitis ulcerosa fand etwa zwei Monate nach ihrer Diagnose statt als sie noch mitten im Schub war. Ihre Familie isst an Heiligabend immer Raclette – mittlerweile zu fettig für Nina. Stattdessen aß sie Kartoffeln mit Dip. Es war das erste Weihnachtsfest, an dem sie sich ausgegrenzt fühlte.

Vielen CED-Betroffenen geht es wie Nina. Sie wissen am Anfang nicht, was sie noch essen dürfen, sollen oder können. Doch genau wie bei der Therapie gibt es nicht die eine Ernährungsweise, die allen gleichermaßen hilft. Stattdessen muss die Diät an die persönliche Situation angepasst werden. Wie war der bisherige Krankheitsverlauf? Was ist der aktuelle Krankheitszustand? Gibt es eine Engstelle im Darm oder wurden Darmabschnitte operativ entfernt?

„In jedem Fall sollten Speisen schonend gegart werden, während frittierte oder stark gewürzte Gerichte vermieden werden sollten“, sagt Cordula Groß. Bei starken und häufigen Durchfällen müsse zudem der Flüssigkeitsverlust ausgeglichen werden, etwa mit selbstzubereiteten isotonischen Getränken. Während Krankheitsschüben könne es zu Mangelerscheinungen kommen. Schmerzen oder Appetitlosigkeit führen dazu, dass weniger Nahrung aufgenommen wird, oder der entzündete bzw. operativ verkürzte Darm kann die Nahrungsbestandteile nicht mehr ausreichend resorbieren. Insbesondere bei einer Colitis ulcerosa kommen blutige Stühle vor. Ob ein Mangel an Spurenelementen wie Eisen und Zink, an Mineralstoffen wie Magnesium oder an Vitamin D3 vorliegt, sollte mit dem Arzt abgeklärt und bei Bedarf substituiert werden.

Bei Morbus Crohn bestehe außerdem häufig das Risiko, dass Betroffene an Gewicht verlieren. Dauere die Entzündungsphase lange oder verlaufe sie sehr schwierig, können eine zeitweilige enterale Ernährung, also die Ernährung direkt über den Darm, oder so genannte bilanzierte Diäten erfolgversprechend sein. Dabei nehmen Betroffene spezielle Trinknahrungen ein, die den Magen-Darm-Trakt schonen, entzündliche Prozesse verringern, sowie eine Mangelernährung vorbeugen beziehungsweise dieser entgegenwirken.

„Ein Leben mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung kann psychisch sehr belastend sein“, sagt Prof. Dr. Peter Hasselblatt. Ganz wesentlich sei, dass Betroffene ihr Umfeld informieren und sensibilisieren. Dieses sollte ihnen im Gegenzug Verständnis entgegenbringen. Bei zehn oder mehr Durchfällen am Tag ist ein Kinobesuch oder eine lange Wanderung etwa kaum möglich.

Positiv ist, dass es eine Vielzahl von Hilfsangeboten durch Betroffenenorganisationen wie die DCCV, die Deutschen Morbus Crohn / Colitis ulcerosa Vereinigung, gibt, die psychosoziale und sozialrechtliche Unterstützung anbieten. Prof. Dr. Peter Hasselblatt betont, dass es darum gehe, einen Mittelweg zu finden – zwischen dem Gefühl, krank zu sein und nichts mehr tun zu können und sehr hohen Erwartungen oder Ansprüchen an sich selbst.

Doch nicht nur der Umgang mit der Krankheit sei laut des Mediziners herausfordernd. Auch die Forschung zu CED stehe vor vielen offenen Fragen. Beispielsweise sei nicht klar, warum vermehrt junge Erwachsene erkranken.

Wie die Krankheit entsteht, ist also noch nicht ausreichend erforscht. Zu den ursächlichen Faktoren gehören aber möglicherweise erbliche Einflüsse, die Anzahl von Infekten und Antibiotikatherapien in der Kindheit, ob gestillt wurde, der Ort und die Umstände des Aufwachsens, Umweltfaktoren, Ernährungsgewohnheiten sowie psychische Belastungen.

Sowohl an den Krankheitsursachen als auch an wirksamen Behandlungsmöglichkeiten werde intensiv geforscht, sagt Prof. Dr. Peter Hasselblatt. Aktuelle Studien befassen sich außerdem mit der Darmflora, da deren Störung, eine sogenannte Dysbiose, höchstwahrscheinlich die Krankheitsentstehung begünstigt. Eine Transplantation der Darmflora, also der Austausch von kranker oder gestörter Darmflora durch gesunde Darmflora, könne eine vielversprechende Methode sein, um Colitis ulcerosa effektiv und nebenwirkungsarm zu behandeln.