Dr. Mithu M. Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin. Sie lebt in Düsseldorf und doziert an verschiedenen Universitäten deutschlandweit. Im Jahr 2009 veröffentlichte sie ihr Buch Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts, das mittlerweile in fünf Sprachen übersetzt wurde. 2016 erschien ihr weiteres Buch Vergewaltigung: Aspekte eines Verbrechens, für das sie den Preis Geisteswissenschaften international erhielt.

Mithu, als du vor mehr als zehn Jahren das Buch über die Vulva geschrieben hattest, wurdest du von einigen Menschen gefragt, ob Vulva ein Fluss in Russland sei. Inzwischen hat sich die „Vulva“ in der deutschen Sprachlandschaft verbreitet und es werden viele Bücher über sie geschrieben. Warum brauchen wir diesen Begriff?

Wenn wir das äußere sichtbare Genital meinen, dann ist Vulva der medizinisch korrekte Begriff. Die Vagina bezeichnet nur den Schleimhautschlauch, der die sichtbaren Genitalien mit dem Gebärmutterhals verbindet. Bei der Verwendung des Wortes Vagina wird in der Regel das ganze sichtbare Genital auf diesen Schlauch reduziert.

Vagina ist lateinisch für Scheide. Im 17. Jahrhundert haben sich Anatomen überlegt, dass das weibliche Geschlecht da ist, damit der Mann sein „Schwert“, sprich seinen Penis, dort einführen kann. Damit hatte das weibliche Genital mit einem Schlag keine eigene Bedeutung mehr. Das heißt, dass die Vagina nur in Bezug auf einen Penis sprachlich Sinn macht. Sie ist aber da und wir haben mit ihr Spaß, auch wenn wir keinen penetrativen Sex haben.

Wie ist es mit dem Wort Penis, welche Zuschreibungen gibt es da?

Dem Wort Penis schreiben wir genügend andere Dinge zu, die auch sehr beschränkend sind. Der Umgang mit der Vulva und der mit dem Penis funktioniert unter anderen Regeln. Da wo die Vulva sprachlich möglichst unsichtbar und klein gemacht wurde, muss der Penis immer erigiert, immer aktiv und groß sein. Der Hoden ist viel empfindlicher als die Vulva, trotzdem reden wir von Penissen als unempfindliche Waffen. Das ist verrückt. Es gibt auch eine ganz lange Geschichte der Diskriminierung des Penis. In meinem Buch geht es explizit um die Diskriminierung der Vulva, aber das eine und das andere gehen Hand in Hand.

Warum brauchen wir, aus feministischer Perspektive, ein Buch über die Vulva?

Als ich aufgewachsen bin, kannte ich keine Bilder der Vulva. Heute gibt es zahlreiche Genitalbilder im Internet und damit gibt es neue Normen, die auch ganz viel Schmerz erzeugen. Zum Beispiel Normen darüber, wie groß die inneren und die äußeren Schamlippen sein dürfen. In Foren schreiben User und Userinnen, sie hätten noch nie Sex gehabt, weil sie ihr Genital so hässlich finden.

Wir müssen also erstens darüber reden, wie Normen hergestellt werden und wie Menschen anhand dieser Normen davon abgehalten werden, sich in ihrem Körper wohl zu fühlen. Zweitens wurden anhand von Genitalien Geschlechterrollen verhandelt, wie etwa die Vorstellung des aktiven Mannes und die der passiven Frau. Es ist ein politisches Buch, das den kulturellen Prozess nachzeichnet, wie Unterschiede zwischen Männern und Frauen gesell­schaftlich anhand von Genitalien konstruiert wurden.

Welche kulturellen Erzählungen gibt es dazu?

In der klassischen Antike gab es die Vorstellung, dass das männliche Embryo das innere Feuer besitze und dadurch in der Lage sei, seine Genitalien nach außen zu stülpen. Während dem weiblichen Embryo dieses phallische Feuer fehle und die „gleichen“ Genitalien deshalb nach innen gestülpt blieben. Daher wurde argumentiert, dass nur der Mann Kultur und Kunst hervorbringen könne, da nur er über das innere Feuer verfüge. Etwa im 16. Jahrhundert gab es die Diskussion, warum Gott als allwissender die Frau unperfekt schuf. Am medizinischen Lehrstuhl in Padua wurde gesagt: Die Frau ist von Natur aus eitel. Wenn sie auf sich herabschaut und ihr hässliches Genital sieht, schämt sie sich und kann dadurch endlich ihre „natürliche“ Rolle der Fürsorgerin einnehmen.

Auf der einen Seite galt die Vulva als das unsichtbare Geschlecht, andererseits wurde historisch gesehen vieles an den weiblichen Genitalien festgemacht. Wie lassen sich diese beiden, teilweise gegenläufigen Tendenzen konkret erkennen?

Unsichtbar war es, weil es diese Vorstellung gab, die zum Teil auf Freud zurückgeht, dass Frauen die kastrierten Personen seien. Ihnen fehle also der Penis. Mir ging es in meinem Buch auch darum, kulturwissenschaftliche Geschichten zu erzählen, in denen die Vulva überhaupt nicht so klein und unsichtbar war, dass man sie übersehen könnte. Es gibt ganz viele Geschichten, wie das Zeigen der Vulva die Welt gerettet hat. Genitalien sind offensichtlich ein wichtiger Aspekt der menschlichen Identitätsfindung. Wenn wir in die Welt hinaussehen, gehören sie zu den Mustern, nach denen wir suchen.

Ist die Vulva deiner Meinung nach das unterschätzte Geschlecht?

Ja, aber interessanterweise wurde es ursprünglich dämonisiert. Erst nach der Dämonisierung folgte das Ignorieren. Mit der Entstehung des christlichen und jüdischen monotheistischen Glaubens gab es einen männlich imaginierten Gott, der keine weibliche Gottheit brauchte, um die Welt zu gebären. Problematisch war dann, dass der Mann, das Geschöpf das Gott am ähnlichsten sehen sollte, keine Kinder gebären konnte.

Im 15. Jahrhundert gab es biologische Auseinandersetzungen darüber, ob Frauen mit ihren Genitalien in den Himmel kommen können. Sie würden Gott und seiner Fähigkeit, Leben zu schaffen, Konkurrenz machen. Daraufhin hieß es, dass Frauen sowieso direkt in die Hölle kämen. Später wurde behauptet, Frauen könnten in den Himmel kommen, aber nur wenn sie vorher ihr Genital abgeben würden.

Es sind genau zehn Jahre her, seitdem du dein Buch veröffentlicht hast. Welche positiven Veränderungen gibt es seither?

Vieles wird besser. Die mediale Präsenz der Vulva hat rasant zugenommen. Es gibt mittlerweile sehr viel Vulva-Kunst und -Mode. Zum Beispiel gibt es auf der New York Fashion Week die Vulva Kollektionen. Die Vulva ist massiv in den sichtbaren Bereich hinübergegangen und das ist hervorragend, weil wir sie dadurch mit etwas Positivem und mit Potenz aufladen können. Vorher wurde Potenz immer nur männlich konnotiert.

Welche Problematiken siehst du aktuell im gesellschaftlichen Umgang mit der Vulva?

Zurzeit habe ich mit der Literaturwissenschaftlerin Gunda Windmüller eine Petition begonnen, um das Wort Schamlippen in Vulvalippen umzubenennen. Die Bezeichnung Schamlippen haben wir unter anderem wegen der Labioplastik ausgewählt, eine große Boom-Branche der kosmetischen Chirurgie, bei der diese modifiziert werden. Diese Industrie funktioniert größtenteils über Beschämung. Scham darf bezüglich des Genitalbereichs selbstverständlich empfunden werden. Aber es ist tragisch, sprachlich diesen Bereich direkt an Scham zu koppeln.

Außerdem gibt es noch eine große Wissenslücke rund um die Vulva. Ihre Nervenbahnen sind zum Beispiel nicht ausreichend erforscht. Das heißt, bei operativen Eingriffen, wie etwa Dammschnitten, kann nicht angemessen auf sie geachtet werden.

Dann gibt es die vielen Hygieneprodukte, wie zum Beispiel Deo-Spray für die Vulva, um unsere natürlichen Gerüche zu unterdrücken. Wir lernen, das darf nicht riechen. Ich habe Binden mit Studierenden aufgeschnitten, um herauszufinden aus was sie bestehen. Da sind meistens Plastikeinlagen drin, damit die Binde keinen Geruch freilässt, das feuchte Klima ist aber leider auch förderlich für die Vermehrung von Bakterien. Binden werden außerdem oftmals mit toxischen Chemikalien gebleicht. Beides ist ungesund.

Wie sieht es mit der Thematisierung von weiblicher Lust aus?

Wir sprechen gegendert über Lust. Wir sagen jungen Frauen: Ihr sollt heiß aussehen, euch aber nicht heiß fühlen. Dagegen sollte die Botschaft sein, dass sie ein Anrecht auf ihre Lust haben. Die lüsterne abgewiesene Frau ist eine der vielen schambesetzten Motive in unserer Gesellschaft.

Lust zu haben und selbst zu wissen, was wir wollen, ist wichtig. In feministischen Kreisen fangen wir an, angemessen über weibliche Lust zu sprechen. Das ist großartig. Ich gebe aber viele Konsens-Seminare und wenn es darum geht, was wollt ihr, verstehen einige die Frage nicht. Die Teilnehmenden möchten lernen, wie sie ihre Grenzen kommunizieren und die der anderen erkennen, aber Grenzen fangen damit an, dass wir über eigene Bedürfnisse sprechen. Im Moment reden wir viel über die Vulva als gefährdeten Bereich, aber weniger über die Vulva als potenten Bereich.