Hallo Augustin, du studierst seit sieben Jahren Islamwissenschaft mit Schwerpunkt Iran an der Uni Freiburg. Kannst du die heutige Situation in Iran in die Geschehnisse der letzten Jahre einbetten?

Augustin Laber studiert an der Uni Freiburg den Masterstudiengang Moderne Islamische Welt mit dem Schwerpunkt Iran.

Lange gab es Hoffnungen auf Reformen in der Islamischen Republik Iran. Die Leute haben 2013 und 2017 an Wahlen teilgenommen und Rouhani zum Präsidenten gewählt in der Hoffnung, dass er durch wirtschaftliche Öffnung und eine Beendigung der internationalen Isolation Erleichterungen schaffen wird. Seit 2017 ist die wirtschaftliche Lage immer schwieriger geworden, was auch an den USA liegt, die 2017 aus dem Atomabkommen ausgestiegen sind. Es wurde aber auch von der Regierungsseite repressiver. Im November 2019, vor genau drei Jahren, gab es große Proteste gegen die Regierung, die brutal niedergeschlagen wurden. Die Nachrichtenagentur Reuters ging von 1.500 Toten aus.

Im Januar 2020 hat die Revolutionsgarde wahrscheinlich aus Versehen ein Passagierflugzeug abgeschossen. Dabei sind 170 Leute gestorben. Die Regierung hat erst versucht, das zu vertuschen, musste dann aber nach drei Tagen zugeben, dass sie das Flugzeug abgeschossen haben. Das war ein riesiges Trauma und für die Menschen war klar, es geht nicht mehr weiter mit dem System.

Dann gab es letztes Jahr Präsidentschaftswahlen, bei denen indirekt der konkurrenzlose konservative Kandidat Ebrahim Raisi durchgedrückt wurde. Viele Iraner*innen hassen ihn, weil er 1989 an Gefängnismassakern beteiligt war. Nun sind die Menschen zu der Erkenntnis gekommen: Wir können mit dem Regime nicht mehr weitermachen.

Kannst du noch mal rekapitulieren, was vor zwei Monaten passiert ist?

Am 16. September ist Jhina Mahsa Amini gestorben. Sie kam aus Saqqez, einer kurdischen Stadt an der Grenze zum Irak, und war mit ihrem Bruder nach Teheran gefahren, um ihre Familie zu besuchen. Dort wurde sie auf der Straße von der Sittenpolizei verhaftet. Das ist ein sehr normaler Vorgang für Iraner*innen, wegen jeder Nichtigkeit kann man verhaftet werden.

Dann ist Jhina in Polizeigewahrsam gestorben. Die Polizei hat gesagt, sie hätte einen Herzinfarkt gehabt – mit 22. Aber die Menschen sind sich sicher, dass das Polizeigewalt war.

Ihre Beerdigung in Saqqez war sehr politisch. Da haben kurdische feministische Gruppen ganz klar angesprochen: Der Grund für ihren Tod ist das Patriarchat, der Staat, die religiöse Ideologie, die Idee, dass Frauen die Würde und Ehre von Männern sind und dass man diese bewahren muss, indem man sie verschleiert. Dann haben Frauen ihre Kopftücher abgenommen und Männer haben dazu geklatscht und mit den Frauen zusammen skandiert: Wie lange noch müssen wir für das Kopftuch getötet werden?

Wie ging es dann weiter?

Am nächsten Tag haben die Menschen mitten in Teheran demonstriert mit genau der gleichen Symbolik: das Abnehmen des Kopftuchs, um zu sagen, dass man diese staatliche Kontrolle von weiblichen Körpern nicht mehr akzeptieren wird. Und dass sich Frauen als Hälfte der Gesellschaft nicht mehr unterdrücken lassen.

Diese Form des zivilen Ungehorsams – dass Frauen Kopftücher abnehmen – gibt es in Iran schon sehr lange, besonders seit 2017. Aber das war immer isoliert. Jetzt plötzlich sehen wir, dass sich alle Gesellschaftsgruppen damit solidarisch zeigen. Seitdem haben sich die Proteste aufs ganze Land ausgebreitet. Das gab es seit 1979 noch nie. Alle Gruppen, von reich bis arm, solidarisieren sich, alle Minderheiten machen da mit. Und wir sehen, dass die Regierung mit Gewalt reagiert. Bis jetzt wurden ungefähr 300 Demonstrierende getötet, 14.000 Menschen gefangen genommen und viele davon zum Tode verurteilt.

Gleichzeitig lassen sich die Leute nicht mehr einschüchtern. Eine Säule der Macht solcher autokratischen Regime wie in Iran ist, dass sie diese Wand der Angst aufbauen. Das merkt man richtig auf der Straße, wenn man dort mal unterwegs ist. Dieses „Jetzt nicht“, „Psst, pass auf“. Man hat immer diesen Druck auf den Schultern. Ich kenne das auch in Deutschland. Wenn ich einen wissenschaftlichen Artikel über den Iran schreiben und veröffentlichen will, dann frage ich mich: Kann ich dann noch in den Iran oder sind meine Freund*innen dort gefährdet?

Diese Wand der Angst ist jetzt eingestürzt. Jeder geht demonstrieren. Iranische Freund*innen von mir in Freiburg berichten, dass ihre Eltern mit 50, 60 Jahren in Iran auf die Straße gehen und demonstrieren und keine meiner Freundinnen in Iran geht noch mit Kopftuch auf die Straße.

Diese Proteste sind anders als die bisherigen?

Wir hatten in Iran 2009 große Proteste. Damals ging es um Wahlbetrug. Daraufhin sind viele mit dem Slogan „Wo ist meine Stimme?“ auf die Straße gegangen. Es ging also nicht darum, das Regime zu stürzen, sondern es zu reformieren und den eigenen Kandidaten zum Präsidenten zu machen, damit man durch ihn Einfluss auf das Regime hat. Da sind auch bis zu drei Millionen Menschen in Teheran auf die Straße gegangen.

Heute aber sehen wir ganz klar: Die Leute wollen das Regime stürzen. Die Slogans sind sehr radikal und direkt gegen Chamenei selbst gerichtet. Interessant ist, dass es nicht einen Slogan gegen den Präsidenten Raisi gibt. Früher haben sich alle politischen Auseinandersetzungen um das Präsidentschaftsamt gedreht und der Revolutionsführer war immer gesetzt. Jetzt beleidigen alle den Revolutionsführer.

Besonders ist auch, dass die Proteste in allen Regionen des Landes stattfinden und auch die gegenseitige Solidarität. Es gibt einen Freitagsimam in der Provinz Baluchestan, der eigentlich ein totaler Islamist ist. Er war wie alle Freitagsimame in Iran ein Repräsentant des Regimes und hat sogar die Taliban unterstützt, als die an die Macht kamen. Jetzt hat er sich von der Regierung losgesprochen und unterstützt die Proteste. Vor etwa einem Monat sind die Menschen nach einem Freitagsgebet auf die Straße gegangen und haben demonstriert, weil ein 15-jähriges Mädchen von einem Polizisten vergewaltigt wurde und die Polizei versucht hat, das unter den Teppich zu kehren. Bei den Demonstrationen wurden 90 bis 100 Menschen erschossen. Dieser Freitagsimam hat in der Freitagspredigt gesagt: Alle religiösen Minderheiten verdienen Respekt, auch die Bahai und auch die Atheisten. Das ist extrem besonders, dass sogar dieser Mann, der wahrlich kein Feminist ist, in diese Proteste miteinsteigt.

Die islamische Republik sagt ja immer: „Wir haben den Anspruch, den Islam hier auf der Welt umzusetzen und wir tun dich rechtleiten. Du weißt nicht, dass ich dir Gutes tue und du setzt dich dagegen zur Wehr, dass ich deinen Körper kontrolliere, aber dafür kommst du in den Himmel.“ Und jetzt sagen die Leute: Wir akzeptieren das nicht mehr. Wir wollen keine Religion in der Politik.

Es gibt ja viele Gruppen in der Gesellschaft, denen es schlecht geht: Baluchen, Bahais, Homosexuelle und trans Frauen. Aber auch in all diesen Gruppen geht es den Frauen immer am schlechtesten. Baluchischen Frauen geht es schlechter als baluchischen Männern und trans Frauen schlechter als trans Männern. Deswegen hat man sich, glaube ich, auf diesen Slogan geeinigt: Frauen, Leben, Freiheit. Wir müssen zuerst die Unterdrückung der Frauen beenden, um dadurch auch die ganze Gesellschaft zu befreien.

Wo kann man Informationen aus dem Iran bekommen?

Die iranischen Auslandsmedien funktionieren super. Viel läuft über BBC und es gibt zum Beispiel einen Kanal auf Telegram, der heißt übersetzt „1500 Bilder“, die posten ziemlich viel. Ich wende gerade täglich Stunden auf, um mit meinen Freund*innen in Iran in Kontakt zu bleiben. Das Internet wird manchmal abgestellt und teilweise ist es schwierig zu kommunizieren. Vielleicht hat man mal fünf Tage keinen Kontakt, aber ich habe niemanden aus dem Blick verloren. Ich poste auch auf Instagram und versuche, die Lage zu kommentieren. Mein Instagramkanal ist jetzt öffentlich. Ich habe alle Menschen, von denen ich Posts und Stories gemacht habe, vorher angeschrieben und gefragt, ob ich das löschen soll. Und von zehn Personen hat eine gesagt, bitte lösch es. Dass ich ihre Bilder nicht von meiner Instagram-Seite lösche birgt Risiken für sie, aber das ist ihnen egal.

Meine beste Freundin in Iran ist seit zwei Wochen im Gefängnis. Sie wurde vor allem wegen ihres Twitterkanals festgenommen, da hat sie mit ihrem Klarnamen geschrieben: Leute, lasst uns auf die Straße gehen und demonstrieren. Sie wusste, dass sie dafür ins Gefängnis kommen kann.

Viele Leute, die jetzt im Gefängnis sind, werden zu Tode verurteilt. Außerdem wird auch ganz klar Vergewaltigung als Waffe in den Gefängnissen benutzt. Und wir wissen jetzt nicht, wie es ihr geht und was mit ihr passiert. In so einem Regime wird ja auch nie klar kommuniziert, ob man in einer Woche freigelassen oder morgen getötet wird.

Woher kommt dein Interesse an Iran?

Ich war 2015 nach meinem Abitur das erste Mal in Iran, weil mir ein Freund das empfohlen hat. Es ist ein sehr interessantes und offenes Land. Man trifft viele faszinierende Leute, die sehr an dir interessiert sind und dich einladen. Aber es gibt auch viele Leute, die total auf Philosophie stehen oder die musizieren. Musik ist in Iran viel wichtiger als hier in der Alltagskultur.

Iran ist auch ein total widersprüchliches Land. Ich hatte das Bedürfnis zu verstehen, warum Leute wie handeln, vor allem in diesem autokratischen islamistischen System, in dem Leute häufig gezwungen sind, Sachen zu machen, die sie vielleicht sonst nicht so machen würden. Und ich hatte auch Interesse daran zu verstehen, warum dieses System da ist und wie es funktioniert.

Das fand ich so interessant, dass ich danach angefangen habe, Islamwissenschaft zu studieren, um Persisch und mehr über die iranische Geschichte zu lernen. Und jetzt bin ich immer noch da. Ich war in der Zwischenzeit sechs Mal in Iran und habe auch 2018/2019 für ein Jahr in Iran gelebt und dort in Isfahan Persische Literatur studiert.

Wie engagiert sich die Fachschaft Islamwissenschaft für den Iran?

Wir als Fachschaft machen alle zwei Wochen Veranstaltungen. Da versuchen wir, auf Iran aufmerksam zu machen. Wir haben super Expertise, zum Beispiel Olmo Gölz und Prof. Tim Epkenhans vom Seminar, die Vorträge halten. Natürlich wollen wir auch eine Bühne für iranische Stimmen geben. Jetzt öffnen sich viele Menschen und erzählen von ihren Erfahrungen. Als Außenstehende*r lernt man da viel und das wollen wir als Fachschaft unterstützen. Wir werden zum Beispiel im aka-Filmclub einen Film zeigen und arbeiten mit dem Kommunalen Kino, dem Koki, zusammen und helfen ihnen bei ihrer Filmreihe zum Iran. Außerdem versuchen wir gerade eine Solidaritätsbekundung mit den iranischen Studierenden im StuRa zu verabschieden und das gekonnt auf den sozialen Medien zu streuen. Denn die Menschen in Iran sehen das.

Es ist wichtig, dass wir über den Iran reden. Denn das Regime wartet darauf, dass die Aufmerksamkeit aus dem Westen nachlässt, um dann hart durchzugreifen. Zu dieser internationalen Aufmerksamkeit können wir in Freiburg natürlich nur einen kleinen Teil beitragen, aber wir versuchen es.

Sehen wir in Iran wieder eine Revolution?

Das ist schwierig zu beantworten. Wir sehen, dass die Fundamente von diesem System erschüttert wurden. Legitimation ist sehr wichtig für solche Regime und es hat gar keine Legitimation mehr. Die Leute kehren die ideologischen Grundfesten des Systems um. Oft ist es in Iran passiert, dass wenn sich eine Frau nicht „gut“ angezogen hat, ein älterer Herr gekommen ist und in Bezug auf den Iran-Irak-Krieg, bei dem eine Millionen Menschen gestorben sind, gesagt hat: Wir haben Märtyrer für dieses System gegeben, jetzt musst du dich richtig anziehen. Und wenn das heute passiert, dann würde die Frau entgegnen: Wir haben Märtyrerinnen dafür gegeben, dass wir kein Kopftuch tragen müssen. Also man dreht das alles um.

Andererseits hat die Regierung noch gar nicht angefangen, systematisch entgrenzte Gewalt anzuwenden, obwohl sie das Potential dafür hat. In 50 Tagen haben wir jetzt ungefähr 300 Tote, 2019 haben die in drei Tagen 1.500 Leute umgebracht. Es gibt ein großes Eskalationspotential, wenn die mit der Revolutionsgarde auf die Straße gehen und auf jeden schießen, aber bis jetzt haben sie es nicht gemacht und das gibt viel Hoffnung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in fünf Jahren noch eine Islamische Republik haben.