Manchmal Walz genannt oder unter Wandergesell*innen auch „Tippelei“ – die Wanderschaft im Handwerksberuf galt lange Zeit als dessen Hochschule. Die Walz hat eine lange Tradition mit Gesellen wie Adam Opel und Robert Bosch.

Heute ist die Tradition etwas in Vergessenheit geraten, doch vom 16. bis in das 19. Jahrhundert war sie verpflichtend für Handwerksgesellen im deutschsprachigen Europa. Nur wer nach seiner Lehre drei bis vier Jahre mit seinem Handwerk auf Wanderschaft gewesen war, durfte selbstständiger Meister werden und eine Familie gründen. Frauen waren von diesem Brauch ausgeschlossen.

Die Zünfte der Frühen Neuzeit riefen die Wanderschaft ins Leben, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Wenn es einem Betrieb an einer helfenden Hand fehlte, konnten reisende Gesellen einspringen. Diese tauschten ihr handwerkliches Wissen untereinander aus.

Die Gewerbefreiheit verdrängte im 19. Jahrhunderts das Zunftwesen, aber dessen Bräuche blieben teils erhalten, wie auch die wandernden Gesellen.

Heute sind die Wanderjahre freiwillig, ihre Regeln jedoch nach wie vor streng: Wer „auf Tippelei“ geht, muss jünger als dreißig Jahre und ohne Vorstrafen, Schulden oder Kinder sein. Außerdem darf man noch nie geheiratet haben. Drei Jahre und einen Tag ist man in der Regel unterwegs. Dabei verweilen die Wandergesell*innen höchstens drei Monate an einem Ort und dürfen einen Bannkreis von fünfzig Kilometern, der um ihren Heimatort gezogen ist, nicht übertreten.

Weder für Unterkunft noch für Transport dürfen sie bezahlen. Gesell*innen laufen zu Fuß oder trampen. Geschlafen wird draußen oder an Orten, an denen man ohne Geld aufgenommen wird. Zudem sind drei Jahre Digital Detox angesagt: Kein Handy und kein Computer.

Wie viele Gesell*innen aktuell auf Wanderschaft sind, ist schwer zu sagen. Laut des Zentralverbands des Deutschen Handwerks ist die Walz heutzutage hauptsächlich noch in Frankreich, Dänemark und den deutschsprachigen Ländern verbreitet. Der Großteil der deutschen Wandergesellenvereinigungen, die sich „Schächte“ nennen, wurde Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. Über sie reisen circa 400 bis 450 Gesell*innen pro Jahr. Eine kleine Zahl im Vergleich zur Vergangenheit: Vor 200 Jahren reisten jährlich noch 140.000 bis 160.000 Gesell*innen allein nach Wien. Im Gewerbezentrum des Deutschen Bundes fanden sie leicht Arbeit.

Hallo Jana, du hast ein paar Semester Geografie studiert, dann aber eine Ausbildung zur Demeterlandwirtin gemacht. Im Moment bist du in diesem Handwerk auf der Walz von Portugal nach Süddeutschland zurück unterwegs und hast in den letzten Tagen Spanien durchquert. Vorgestern bist du bei mir in Bordeaux angekommen. Wie bist du auf die Idee gekommen, auf die Walz zu gehen?

In der letzten Schulwoche meiner Ausbildung haben wir darüber gesprochen, welche Pläne wir für die Zeit nach der Ausbildung haben. Jemand aus meinem Jahrgang wollte gerne unterwegs sein und verschiedene Höfe anschauen, um noch mehr Berufserfahrung zu sammeln. Sie meinte, dass man auch als Landwirtin auf Wanderschaft gehen könne.

Wenn ich an die Walz dachte, hatte ich ein bestimmtes Bild im Kopf: Leute mit einem Holzstock, einem Hut und interessanter Klamotte. Ich fand das damals richtig abgespaced. Die Vorstellung selbst einmal loszugehen, kam für mich nicht in Frage. Es war zu speziell und unbekannt.

Was hat dich dann dazu bewogen, doch auf die Walz zu gehen?

Ich habe irgendwann erkannt, dass die die Walz der perfekte Rahmen für meine Pläne ist. Alles, was ich vorhatte, ließ sich auf der Walz wunderbar kombinieren: Unterschiedliche Betriebe besuchen, im Handwerk viele neue Praktiken erlernen sowie auch Zeit für Freunde und Reisen haben.

Vor eineinhalb Jahren hast du dich dann dazu entschlossen, auf Wanderschaft zu gehen. Was passierte dann?

Da die Walz eine Tradition ist, die mündlich weitergegeben wird, sucht man sich einen Aktivreisenden, der einen auf die Straße bringt. Das sind Leute, die gerade auf Wanderschaft sind.

Ich habe diese Person auf der Sommerbaustelle gefunden. Das ist ein jährliches Treffen aller Wandergesell*innen, wo man gemeinsam an etwas baut und sich unkompliziert austauschen kann.

Zu Beginn bin ich drei Monate mit meinem Altgesellen auf Reise gegangen. Er hat mir alles für das Leben auf der Straße beigebracht, wie man trampt, wie ich einen Schlafplatz finde oder Leute anspreche.

Es gibt das Gerücht, man müsse vor Reiseantritt seinen ganzen Besitz verschenken.

Ich habe nicht alles verschenkt. Aber es gibt den Ansatz, ohne etwas aus dem bisherigen Besitz loszugehen. Man könnte es so sagen: Du gehst leer in die Wanderschaft und du kommst auch leer zurück. Zumindest finanziell.

Mit wieviel Geld bist du los?

Ich bin ohne Geld losgegangen. Eine Bankkarte habe ich mitgenommen, jedoch ohne Guthaben.

Es heißt, bei der Wanderschaft bekommen Gesell*innen einen Nagel durchs Ohr geschlagen. Stimmt das?

Ja, durchs Ohrläppchen. Das war für mich auch erstmal eine rabiate Vorstellung.

Nach den drei Monaten mit dem Altgesellen habe ich mich für die drei Jahre Wanderschaft entschieden und ein Versprechen abgegeben, was ich für die wandernde Gemeinschaft machen werde. Das nennt sich dann „Nagelschnack“. Es gab ein kleines Fest mit anderen Gesell*innen, die mich in ihre Gemeinschaft aufgenommen haben.

Ich habe meinen Kopf an eine Tischkante gelegt und ein selbstgeschmiedeter Nagel wurde auf meinem Ohrläppchen platziert. Mit einem Hammer hat mir dann mein Altgeselle ein Ohrloch geschlagen, in dem heute dieser goldene Ohrring hängt. In diesem Moment wurde mir bewusst: Okay, ich mache das jetzt für die nächsten drei Jahre.

Es gibt einen Brauch, mit dem du in die Walz gestartet bist. 

Ich bin über mein Ortsschild geklettert. Die sind zum Teil ganz schön hoch, aber beim „Losgehen“ unterstützen dich Familie und Freunde, die dich über das Ortsschild hinüberschieben. Darauf sitzt man dann kurz.

Auf der anderen Seite empfangen dich die Gesell*innen. Mein Altgeselle und ich haben zusammen einen Wein getrunken, weil ich in der Nähe eines Weinbergs gewohnt habe. Aber es geht natürlich auch ein anderes leckeres Getränk ohne Alkohol.

Bei dir war das das Konstanzer Ortsschild?

Genau. Das gibt es jetzt gerade gar nicht mehr. Das wurde entfernt. Naja, ich kann jetzt wohl nicht mehr zurückgehen (lacht).

Was hat es mit der außergewöhnlichen Kleidung auf sich, die du trägst?

Das ist die traditionelle Kluft, die ja relativ bekannt ist. Man hat einen Deckel – also einen Hut –, ein Jackett und eine Weste. Dazu trägt man ein weißes Hemd und diese klassische Hose mit Schlag.

Die Kluft hat eine große Bedeutung. Zum Beispiel kannst du an der Farbe der Kluft ablesen, in welchem Gewerk eine Person arbeitet und die sechs Knöpfe des Jacketts stehen für sechs Arbeitstage in der Woche.

Die Knöpfe sind klassischerweise aus Perlmutt. Ziemlich edel.

Ja, das ist schon edel. Die Perlmuttknöpfe kommen daher, dass die Leute früher im Sonntagsanzug auf Wanderschaft gegangen sind. Da gab es noch nicht diese eine strikte Kluft. Die hat sich erst über die Jahre hinweg entwickelt.

Manche Gesell*innen sind der Meinung, dass die Knöpfe aus Perlmutt sein sollten. Das ist jedenfalls der Klassiker. Es ist aber kein Muss. Ich habe auch Knöpfe aus Bernstein und Holz. Dass die Knöpfe aus einem Naturmaterial sind, ist der kleinste gemeinsame Nenner für viele auf der Straße.

Unser aktuelles Modell der Kluft ist in der Geschichte der Wanderschaft gar nicht so alt, aber wenn man es mit heutiger Kleidung vergleicht, ist sie natürlich total aus der Mode gefallen.

Du bist eine sogenannte fremde Freireisende. Was bedeutet das?

Es gibt verschiedene Gruppierungen, mit denen man auf Wanderschaft gehen kann und die wir „Schächte“ nennen. Bei den Freireisenden können alle handwerklichen Gewerke und auch Frauen mitreisen. Das ist bei ein paar Schächten nicht der Fall. Sie nehmen teils nur Männer auf oder lehnen manche Handwerke ab, wie zum Beispiel die Landwirtschaft.

Es gibt auf Wanderschaft die Regel, dass ihr kein Geld für Transport und Unterkunft ausgeben dürft. Wo schläfst du?

Das kommt auf die Jahreszeit an. Wenn ich im Sommer unterwegs bin, schlafe ich gerne im Schlafsack unter freiem Himmel und im Winter lieber drinnen.

Ich kann im Grunde überall schlafen, solange ich dafür nicht bezahle.

Wenn ich in einem Betrieb arbeite, bin ich meistens auch auf dem Hof untergebracht. Das ist ein klarer Vorteil in der Landwirtschaft.

Wenn ich nur für eine Nacht eine Unterkunft suche, spreche ich Menschen in der Regel direkt an oder klingle an der Tür. Manchmal werde ich unterwegs auch gefragt, ob ich noch einen Schlafplatz suche. Andere Gesell*innen gehen in Kneipen, meist hat dann jemand einen Schlafplatz im Haus oder kennt wen. Da wird dir in der Regel gerne geholfen.

Wie bewegst du dich von einem Ort zum anderen, wenn du keine Verkehrsmittel bezahlen darfst?

Entweder trampe ich oder „tippel“ – gehe also wandern. Allein oder mit anderen zusammen. Ich bin mal den Rhein entlang „getippelt“. Da habe ich auch nach Schiffen Ausschau gehalten, bei denen ich hätte mitfahren können. Ich könnte es auch beim Flugzeug per Anhalter versuchen (lacht).

Historisch war die Walz immer ein Männerbrauch. Es gibt auch noch Schächte, die nur Männer aufnehmen. Wie ist in dieser männlichen Tradition deine Erfahrung als Gesellin?

Ich werde oft darauf angesprochen, wie es als Frau auf Walz ist. Dass Männer mich als nicht legitim betrachten, ist mir noch nie passiert. Ein Freund hat mir aber die Geschichte erzählt, wie er sich einmal mit einer Gesellin zusammen an einen Tisch älterer, ehemals gereister Gesellen setzen wollte und sie nur ihn, nicht aber seine weibliche Begleitung in ihrer Runde akzeptieren wollten. Das war für die beiden sehr unangenehm.

In deiner Reisezeit besteht ein Bannkreis von 50 Kilometern um deine Heimatstadt, den du nicht betreten darfst. Außerdem hast du kein Handy dabei, nur ein kleines Notizbuch mit Adressen und Telefonnummern. Kannst du gut Kontakt zu Freunden und Familie halten?

Ja, sehr gut. Ich schreibe gerne Postkarten und habe auch die Möglichkeit über andere Handys zu telefonieren, die sich ja überall finden lassen. Wenn ich dringend jemanden anrufen muss, spreche ich meistens einen Passanten auf der Straße an. Ich brauche das Handy aber eigentlich nicht. Es ist eher eine Luxussache.

Haben dich bisher Dinge an der Wanderschaft gestört?

Ein paar Sachen haben mich vor allem anfangs gestört. Zum einen die ganzen Regeln, mit denen man konfrontiert ist, weil ich gerne einfach mache, was ich möchte. Ich habe sehr viele Regeln hinterfragt, die mir mein Altgeselle gezeigt hat.

Dass wir zum Beispiel wegen unserem Erscheinungsbild keinen Rucksack tragen, sondern eine Kraxel – da dachte ich mir am Anfang, ey komm, das ist doch blöd. Die Kraxel ist auf den Schultern einfach kein geiles Tragegefühl. Die Kraxel ist eine Art Holzrucksack, auf den man seine Charlies rollt. Die Charlies sind zusammengewickelte Tücher, in denen wir unsere Sachen transportieren.

Manchmal ist es auf Wanderschaft auch unbequem, wenn ich draußen schlafen muss und es kalt ist oder wenn ich beim Trampen sehr lange an der Straße stehe und auf ein Auto warte.

Wie ist dieses Leben für dich, das sich nicht planen lässt?

Zum Teil bin ich auf „Tippelei“ gegangen, weil ich lernen wollte, mit dem zurechtzukommen, was gerade kommt – mit dem Guten und dem Schlechten. Sodass man immer aus der Situation heraus entscheidet, was der nächste Schritt ist. Da gibt es dann nicht so viel „Was wäre gewesen, wenn?“, sondern „Jetzt stehe ich gerade an dem Punkt und jetzt kann ich schauen, wie es weitergeht“.

Ich komme damit mittlerweile besser klar. Manchmal besser, manchmal schlechter, aber diese Haltung liegt mir am Herzen und es ist immer der Wunsch da, sie mehr in mein Leben mehr hineineinzulassen.

Kannst du dir nach drei Jahren Wanderschaft vorstellen, wieder ein sesshaftes Leben zu führen? 

Auf jeden Fall. Allein durch meinen Beruf als Landwirtin bin ich sehr mit einem Ort verbunden. Mir wurde mal ein Spruch in mein Wanderbuch geschrieben: „Wenn du dich selbst kennenlernen möchtest, dann gehe in die Welt. Wenn du die Welt kennenlernen möchtest, dann suche in dir selbst.“

So ist für mich auch die Wanderschaft. Bei den drei Jahren des aktiven Reisens geht es viel darum, mich selbst verstehen zu lernen. Für später kann ich mir vorstellen, irgendwo anzukommen und von dort aus die Welt kennenzulernen, in mir.