Der Himmel ist blau und die Sonne scheint auf die Laube des Schrebergartens, wo Lin Hierse aus ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ liest. Sie liest, wie sie schreibt – bedacht und unaufgeregt, trotzdem hallen ihre Worte nach. Worte über die Folgen von Migration, über eine intensive Mutter-Tochter-Beziehung und über das Träumen.

Hallo Lin, gab es ein ausschlaggebendes Ereignis, was dich dazu gebracht hat, genau diese Geschichte zu schreiben?

Das erste Kapitel handelt von einer Beerdigung, und die Beerdigung von meiner chinesischen Großmutter hing mir sehr nach. Nach dem Tod von Angehörigen oder Menschen, die einem nahestehen, steht man irgendwann vor der Frage, wie man damit umgeht. Bei mir war das so, dass diese Geschichte auf jeden Fall rausmusste. Am Anfang war ich mir gar nicht so sicher, ob das ein Buch werden muss, aber ein Bedürfnis, das aufzuschreiben, hatte ich auf jeden Fall.

Wieso hast du den Fokus besonders auf die Mutter-Tochter-Beziehung gelegt?

Ich glaube, weil es auch für mich die engste Beziehung ist, die ich kenne und gleichzeitig aber auch die mit den meisten Fragezeichen. Das macht sie für mich so interessant. Mutter-Tochter-Beziehungen wurden in der Literatur schon sehr viel verhandelt, deswegen ist das Thema an sich nichts Neues und trotzdem kann man darin so viel individuell neu fragen, betonen oder in den Fokus stellen.

Ich denke, in diesen Beziehungen, und das ist ja auch psychologisch immer wieder erforscht, spielen Abgrenzung und Vergleich eine wichtige Rolle, und auch die Frage, ob wir zum Beispiel Freundinnen sein können. Es gibt ja in vielen dieser Beziehungen irgendwann den Punkt, wo das im Raum steht: Kann man mehr oder noch etwas anderes als Mutter und Tochter sein?

Welchen Einfluss hat die Mutter auf die kulturelle Identität und besonders auf das Zugehörigkeitsgefühl der Erzählerin zu ihrem chinesischen Hintergrund?

Die Einwanderergruppe von Chines*innen in Deutschland ist vergleichsweise klein, das heißt, es gibt kaum eine präsente öffentliche Geschichte und Gegenwart von China in Deutschland. Also, es gibt die immer mal wieder an bestimmten Punkten, zum Beispiel in dem Chinesenviertel auf St. Pauli, in das die Erzählerin fast schon zufällig hineinstolpert und von dem sie gar nicht wusste, dass es existiert, obwohl es eigentlich etwa ganz Essenzielles ist. Dadurch, dass es 1944 gewaltsam durch die Gestapo aufgelöst wurde, erzählt es von einer Verbindung zwischen Nazi-Deutschland und China.

Diese Dinge weiß die Erzählerin nicht von ihrer Mutter, weil die Mutter das eben auch nicht wusste. Das zeigt auch nochmal: Nur, weil du selbst zu einer bestimmten Gruppe gehörst – das muss gar keine kulturelle oder nationengebundene Gruppe sein – musst du nicht alles wissen, was in der Geschichte passiert ist. Ich glaube, es ist hier außerdem wichtig zu sehen, dass es für die Mutter noch deutlich schwieriger war, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, weil sie diejenige ist, die migriert ist. Durch den Abstand ist es leichter für die Erzählerin auf diese Geschichte zu blicken und zu hinterfragen, wie sie das eigentlich beeinflusst.

Der Roman ist autofiktional – was hast du als Autorin mit der Erzählerin gemeinsam?

Ich denke, wir leben beide mit der Selbstverständlichkeit, dass die Welt viel fluider ist, als sie oft erzählt wird. Damit meine ich zum Beispiel die Gleichzeitigkeit von Orten, in diesem Fall China und Deutschland – weder ich noch die Erzählerin haben erlebt, dass sie da tatsächlich von A nach B reisen müssen. Es ist, als wäre beides ständig präsent, egal wo. Eigentlich können die Orte immer gleichzeitig anwesend sein, in uns und um uns herum. Es geht ganz oft um das Verschmelzen von Kontexten und um diese Dehnbarkeit von Grenzen. Das macht es auch nicht immer leicht für die Erzählerin, sich dazwischen zu verhalten und sich zu fragen, wer sie in diesem Kontext ist. Eigentlich erzählt sie von einer Sicht auf die Welt, die ganz fluide ist und überhaupt nicht starr. Und das kenne ich auch gut.

Wie schon im Titel erkenntlich wird, spielt das Träumen in deinem Roman eine bedeutende Rolle, was hat es damit auf sich?

Verschiedenes. Eigentlich ist der Traum die Fläche, die sich erzählerisch am besten dafür eignet, um den Bereich zwischen Realität und Traum zu markieren. Um in Frage zu stellen, ob das, von dem wir sagen, dass es real ist, wirklich immer real ist. Das ist gerade im fiktionalen Schreiben für mich schön gewesen.

In den Traumkapiteln zum Beispiel, wo es um die Träume nachts geht, da verändern sich Verhältnismäßigkeiten, Größen von Gegenständen und Entfernungen, das ist fast magisch und fantastisch. Dann geht es aber auch um Traum im Sinne von Bewusstseinsverschiebung oder -verlust. Mutter und Tochter haben zum Beispiel beide manchmal das Problem, dass sie das Bewusstsein verlieren. Da gibt es eine Stelle, wo sich die Erzählerin fragt, wo sie dann in diesem Ohnmachts-Moment ist – also in was für einer Welt. Und das spielt wiederum auch auf Geister- und Ahnengeschichten an, die es in chinesischen Erzählungen ganz viel gibt. In China ist es sehr verbreitet, dass man den Ahnen gedenkt und auch daran glaubt, dass sie nach dem Tod noch anwesend sind.

Auch dafür eignet sich das Träumen sehr gut, um diese Realitäten oder Surrealitäten miteinander zu verbinden und irgendwie in das, was wir eigentlich als erlebte Realität wahrnehmen, hereinzuholen. Das ist auch wieder ein Aufweichen von Grenzen.

Wovon träumen Mutter und Tochter jeweils?

Es gibt ein Kapitel, das heißt das gute Leben. Ich könnte jetzt sagen, sie träumen vom guten Leben. Davon träumt sicherlich jede*r und das ist ja dann wieder sehr subjektiv, was das sein soll. Ich glaube, bei der Mutter, und darüber denkt ja auch die Erzählerin nach, ist es so, dass sie vielleicht von einem Garten träumt. Einfach von einem Ort, wo sie weder politisch sein muss noch, wo ihr vorgeschrieben wird, wer sie zu sein, wie sie auszusehen und wie sie sich zu verhalten hat.

Die Mutter ist geprägt von der Zeit in China unter Mao und der Kulturrevolution und wollte da auch deswegen weg, weil ihr bis ins Privateste hinein vorgeschrieben wurde, wie sie ihr Leben zu leben hat. Ihr Traum ist dann, frei wählen zu können. Bei der Erzählerin sind wir im Roman eher auf der Suche. Sie weiß noch nicht so genau, wovon sie träumt, was sie eben auch dazu antreibt, sich mit der Geschichte ihrer Familie zu beschäftigen und mit der Frage, wer sie eigentlich ist oder sein will.

Was wäre eine Message, die Leser*innen aus deinem Roman mitnehmen sollen?

Ich tue mich damit immer schwer, weil ich finde, es ist ja das Schöne an Literatur, dass Leser*innen einfach mitnehmen, was sie ihnen gibt. Also wenn es einer Person mehr gibt, etwas über Tod und Trauer darin zu finden, weil sie sich im Leben vielleicht auch gerade an so einem Punkt befindet, dann freue ich mich, wenn es das ist. Und wenn andere darin etwas aus ihrer Mutter-Tochter-Beziehung finden, dann auch das.

Ich hatte beim Schreiben keine Message im Kopf. Es ist anders als im Journalismus oder in Kolumnen, wo meistens eine Message des Textes erkennbar ist und sein sollte. Ich finde es auch schön, dass sich Botschaften jeweils an die Lesenden anpassen, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt, in welcher Lebensphase man das Buch liest.

Als Schreibende muss man auch lernen, etwas, das einem so nah ist, loszulassen und zu sagen: Was du als Leser*in da jetzt rausziehst und was für dich der Kern des Buches ist, das hat mit mir jetzt nicht mehr so viel zu tun. Das ist jetzt veröffentlicht und du kannst da rausziehen, was du möchtest. Und vielleicht ist das dann nicht genau das Gleiche, was für mich am wichtigsten war, aber das ist ja auch überhaupt nicht schlimm.

War es schwierig für dich über so persönliche Themen zu schreiben?

Ja, in gewisser Weise schon. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob das jetzt zu viel ist, zu nah, ob ich es mehr fiktionalisieren muss. Ich glaube, am Ende geht es aber immer um die Frage, was privat ist und was persönlich. Wirklich privates möchte ich nicht in diesem Buch haben, jedenfalls nicht erkennbar. Was aber persönlich ist, das sind ja die schönen Geschichten, bei denen ich es auch als Leserin toll finde, wenn Leute etwas Persönliches von sich erzählen, weil man sich dann darin wiederfinden kann.

Zum Schluss würde mich noch interessieren, was dir auf sprachlicher Ebene wichtig war. Die Wörter der Kapitelüberschriften sind zum Beispiel konsequent kleingeschrieben, was war da der Grund dafür?

Es gefällt mir einfach besser. Und ich finde es schön, wenn kein Buchstabe die anderen dominiert. Außerdem gibt es im Buch zum Beispiel auch diese jade-Kapitel, die dann hinter der Überschrift in Klammern auf Chinesisch eins, zwei und drei stehen haben – und es tauchen auch immer wieder chinesische Schriftzeichen oder manchmal auch die Umschrift, im Buch auf. Ich wollte zumindest ein bisschen in Frage stellen, wie wir mit Sprache umgehen. Ich finde, Sprache im Literarischen kann auch in der Form so viel mehr. Da ist deutsche Literatur oft noch nicht so mutig. Ich habe mich da bisher auch noch zurückgehalten, weil es da dann oft die Debatte gibt, ob man das noch versteht oder ob es zu irritierend ist. Mich interessiert das immer noch sehr, die Frage nach Form – und eben Irritation – im Schreiben.

“Wovon wir träumen” ist der Debütroman der Journalistin und Autorin Lin Hierse. Das Buch ist im März 2022 im Piper-Verlag erschienen.