Neben dem klassischen Antisemitismus, der sich zum Beispiel in Kreisliga-Stadien und bei AfD-Wahlveranstaltungen wieder größerer Beliebtheit erfreut, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine andere Form des Jüd*innenhasses in Deutschland etabliert. Die Rede ist von sogenanntem strukturellen Antisemitismus, einer Argumentationsstruktur, die klassische antisemitische Ressentiments unter anderem mit Globalisierungs- und Systemkritik vermischt. Anders als klassischer Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden aufgrund ihrer „Rasse“ angebliche Charaktereigenschaften wie Geiz, Gier und Bosheit unterstellt, drückt sich struktureller Antisemitismus beispielsweise in der sogenannten „Rothschild-Diffamierung“(1) aus. Hier wird die  jüdische Familie Rothschild als mutmaßliches Mitglied einer globalen Finanzelite identifiziert, die die Weltpolitik beherrscht. So wird, getarnt durch angebliche Kapitalismuskritik, das antisemitische Stereotyp des reichen Juden als Verschwörer, unter dessen Herrschaft die Menschen leiden, bedient.

Dieses Bild gibt es in ganz verschiedenen Abstufungen und Schattierungen. Selbst ohne den offensichtlichen Bezug zu einer jüdischen Familie wie den Rothschilds ist die Verschwörungstheorie einer angeblichen geheimen Weltelite, die maßgeblichen Einfluss auf alle Regierungen hätte, höchst problematisch. Ungleichheit zu personalisieren hat zwar den “Vorteil”, dass Menschen diese besser sehen können. Doch sorgt das auch dafür, dass einige zu glauben beginnen, Probleme könnten gelöst werden, indem man die Menschen, die durch diese Personalisierung die Probleme verkörpern, beseitigt. Die Nationalsozialisten nutzten das Bild einer jüdischen Weltverschwörung, begründet auf dem antijüdischen Pamphlet „Protokolle der Weisen von Zion“(1903) aus Russland. Diese Protokolle einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung waren eine Fälschung antisemitischer Zargetreuer, fanden allerdings Anklang bei modernen Vordenkern des sozialdarwinistischen Antisemitismus, unter anderem Wilhelm Stapel und Heinrich Himmler.

Während das Bild der jüdischen Weltverschwörung ein wenig subtiles ist, gibt es andere, die beinahe unwidersprochen Einzug in unseren Alltag gehalten haben. Eines dieser Bilder ist das von Firmen als Kraken. Der Begriff der „Datenkrake Facebook“ klingt eigentlich nach einer klassischen Polemik, hinter ihr verbirgt sich aber ein strukturell antisemitisches Argumentationsmuster. Einem Unternehmen vorzuwerfen, seine Struktur gleiche der einer Krake, unterstellt, dass von dieser Firma eine unkontrollierbare und omnipräsente Macht ausgeht, zu der man sich oppositionär zu verhalten habe. Dass dieses Unternehmen dann auch noch von Juden gegründet und geführt wird, macht die Figur noch exemplarischer. So wird die inhaltlich absolut gerechtfertigte Kritik an Zuständen des Kapitalismus, in diesem Fall der laxen Datenschutzpolitik von Facebook, allein durch die Wortwahl mit einem neuen Bedeutungskontext versehen.

Auch Teile der Medien geraten im sprachlichen Sinne immer wieder in den Verdacht, „Komplize“ einer jüdisch durchsetzten Macht-Instanz zu sein. Schnell wird auch nicht nur in rechten Kontexten von „Systemmedien“ gesprochen, die angeblich nicht Wahrhaftigkeit zur Aufgabe haben, sondern dem Willen eines „Systems“ folgten. (2) Auch dieser Argumentationsstruktur liegt das Bild einer angeblich herrschenden, geheimen Elite zugrunde.

Doch auch die Medien selbst schaffen es teilweise nicht, sich von antisemitischer Sprache zu emanzipieren. Neben den inzwischen zum traurigen Alltag gewordenen, strukturell antisemitischen Ausfällen gegen Israel, fällt gerade die linke Presse immer wieder mit einer Vermischung von strukturellen Problemen des Systems und dem Fehlverhalten einzelner, angeblich herrschender Figuren der globalen Finanzwelt auf. (3)

Das Argument, dass diese teils sehr im Detail liegenden Kommunikationsmuster längst nicht die Relevanz hätten, die ihnen durch diese Debatte zuteil wird, wird in diesem Kontext oft genannt. Doch Sprache beeinflusst gesellschaftliche Realität, und wenn diese Realität wieder mehr und mehr auf antisemitische Ressentiments zurückgreift, ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Worten wieder Taten folgen.

Die uniCROSS-Redaktion setzt sich im Wintersemester 19/20 intensiv mit der sozialen Marktwirtschaft auseinander. Und auch uns ist in der Recherche aufgefallen, wie nah Kritik an Globalisierung und System bei strukturellem Antisemitismus liegen können. Auch der Titel der Woche „Geld regiert die Welt“ ist in seiner Aussage problematisch. Die Personalisierung von „Geld“, die nichts anderes als die Gleichsetzung von Kapital und seinen Besitzer*innen impliziert und die Aussage, dass es die Welt regieren würde, referiert auf das bereits diskutierte Bild einer angeblichen Weltelite. Das könnte sich gefährlich nah an strukturell antisemitischer Kommunikation bewegen. Gerade weil Sprache gesellschaftliche Realitäten beeinflusst, ist es ausgesprochen wichtig, darauf zu achten, was mit welchen Begriffen gesagt wird. Wir werden darauf achten. In der Hoffnung, dass sich die rhetorischen Figuren, die den 9. November 1938 erst möglich gemacht haben, nie mehr in deutschen Diskursen wieder finden.

► Alle Beiträge zur Themenwoche 30 Jahre Mauerfall