“There was nothing to being white except boldness. You could convince anyone you belonged somewhere if you acted like you did.” (Stella)

Die Verschwindende Hälfte erzählt die Geschichte der Zwillingsschwestern Stella und Desiree Vignes. Die beiden verbringen ihre Kindheit in der kleinen Gemeinde Mallard im Jim-Crow Süden. Gegründet wurde der Ort von ihrem Vorfahren Alphonse Decuir: Er träumte von einer Gemeinschaft, in der, seiner Meinung nach „wertvollere“, hellhäutige Schwarze unter sich leben könnten. Mit jeder Generation sollten seine Nachfahren heller und somit „perfekter“ werden. Stella und Desiree verkörpern dieses Schönheitsideal: Sie beide sind „white-passing“, werden also als weiß wahrgenommen.

Da das Geld, das ihre Mutter verdient, nicht ausreicht, müssen die beiden nach der zehnten Klasse die Schule abbrechen um für die reiche weiße Familie Dupont zu arbeiten. Desiree hasst die Arbeit – ihre größte Angst ist es, wie ihre Mutter für den Rest ihres Lebens weiße Personen zu bedienen.

Am Ende des Sommers schlägt sie Stella vor, gemeinsam nach New Orleans zu flüchten – und ist überrascht, als ihre sonst so vernünftige Schwester zustimmt. Stella verschweigt Desiree, dass Mr. Dupont sie mehrfach vergewaltigt hat und sie die Flucht nach New Orleans als den einzigen Ausweg ansieht.

In der Großstadt angekommen finden die beiden zunächst Arbeit in einer Wäscherei. Nachdem Stella gefeuert wird, wird sie bei einem Vorstellungsgespräch fälschlicherweise für eine weiße Frau gehalten und kommt so zu einem gut bezahlten Job als Sekretärin. Mit der Zeit fällt es ihr immer schwerer, ihr Leben als weiße Frau bei der Arbeit von ihrem Privatleben zu trennen. Als ihr Chef ihr anbietet, als seine persönliche Sekretärin mit ihm nach Los Angeles zu ziehen, entschließt sich Stella ihre Vergangenheit und auch ihre Identität als schwarze Frau zurückzulassen und ein neues Leben zu konstruieren.

Zehn Jahre später lebt Desiree wieder in Mallard, gemeinsam mit ihrer Tochter Jude, die wegen ihrer dunklen Hautfarbe als „unvollkommen“ verurteilt wird. Stella hat währenddessen ihren ehemaligen Chef, der sie nach wie vor für eine weiße Frau hält, geheiratet und lebt komfortabel im Reichenviertel LAs.  Doch Stellas sorgfältig konstruierte Lüge droht zusammenzubrechen: Obwohl die Zwillingsschwestern keinerlei Kontakt mehr haben und durch zahlreiche Kilometer voneinander entfernt sind, kreuzen sich die Lebenswege ihrer Töchter immer wieder. Jude erkennt Stella als die „verlorene“ Schwester ihrer Mutter an und schafft es, über Kennedy, Stellas Tochter, Kontakt herzustellen. So werden die Schwestern dazu gezwungen, sich erneut mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Mit Die Verschwindende Hälfte erschafft Brit Bennett eine emotionale und fesselnde Familiengeschichte, die sich über Generationen und geographische Distanzen hinweg streckt und eine Vielzahl gesellschaftlicher Themen aufgreift.

Eines dieser Themen ist die Rolle von Beziehungen und Gemeinschaft: Anhand der verschiedenen Mutter-Tochter und Ehemann-Ehefrau Beziehungen illustriert Bennett, wie viel Menschen dazu bereit sind, für Gemeinschaft und Nähe zu opfern. Auch häusliche Gewalt wird thematisiert: Desiree wird von ihrem Ehemann Sam sowohl körperlich als auch emotional misshandelt. Zunächst versucht sie, seinen Missbrauch zu rationalisieren und verteidigen. Sie zögert sehr lange, bis sie sich entschließt, ihn zu verlassen und gemeinsam mit Jude nach Mallard zurückzuziehen.

Auch Stella opfert viel für ihre Beziehung zu ihrem Ehemann: Sie verbietet es sich selbst, sich mit ihrer Vergangenheit und ihrem Trauma auseinanderzusetzen, sowie ihr wahres Ich auszuleben. So zeigt Bennett die dauerhaften und nachhaltig schädigenden Auswirkungen von Geheimnissen und Lügen. Ihre unerfüllten Beziehungen zeigen, wie Desiree und Stella versuchen, das Loch, das durch das „Verschwinden“ ihrer „Hälfte“ geschieht, zu füllen.

Ein Leitmotiv in Die verschwindende Hälfte ist das „Passing“. Bennett bezieht dies einerseits auf den „passe blanc“, also auf Stellas erfolgreiche Selbstpräsentation als weiße Frau, und anderseits auf das „Passing“ von transsexuellen Personen als die Fähigkeit, sich nach außen hin „erfolgreich“ als die eigene Geschlechtsidentität zu präsentieren.

All diese Motive sind eingebettet in den übergreifenden Kontext der Gegenüberstellung von „schwarz“ und „weiß“. Als Leser*in wird man von Bennett dazu aufgefordert, die eigene Definition von „schwarz“ und „weiß“ zu überdenken. Geht es bei der Unterscheidung wirklich um Gene oder Hautfarbe? Oder bedarft es, so wie Stella behauptet, wirklich nur „boldness“ im Sinne von Selbstbewusstsein und -überzeugung, um sich als weiß zu identifizieren?

Stellas Geschichte verdeutlicht, was es Mitte des 20. Jahrhunderts bedeutete, als weiß zu gelten, aber auch, was sie für die daraus resultierenden Privilegien aufgeben musste. Ihre Entscheidung gegen ihr Erbe wird dabei von Bennett wertungsfrei dargestellt: Es bleibt dem Lesenden überlassen, die Handlungen und Meinungen der Schwestern zu evaluieren.

Die fiktionale Gemeinde Mallard, in der Stella und Desiree, und später auch Jude, aufwachsen, basiert auf einem wahren Ort: Bennetts Mutter, die ihre Kindheit in Louisiana verbrachte, erzählte ihr von einem benachbarten Ort, in dem die Bewohner „besessen“ von ihrer Hautfarbe waren. Die Bewohner Mallards sind ähnlich fixiert auf Hellhäutigkeit: Desiree und Stella werden als Kinder von ihrer Mutter vor dunkelhäutigen Männern gewarnt. Jude erfährt später den Hass der Bewohner Mallards auf dunkelhäutigere Schwarze direkt: In der Schule wird sie gemobbt und als „Tar Baby“ beschimpft. Diese Art von bevorzugter Behandlung weiß aussehender Personen nennt sich „Colorism“ und zieht sich als Leitmotiv durch das gesamte Buch und begleitet die Charaktere über Generationen hinweg.

Die englische Originalfassung wurde im Juni 2020 als The Vanishing Half veröffentlicht, auf deutsch ist der Roman als Die Verschwindende Hälfte erhältlich.