Henrike: Hallo an alle. In den letzten Wochen ist unglaublich viel passiert, von Drohungen des Kreml bis hin zu Bombardierungen in Kyiv und in anderen Teilen des Landes. Wie geht es euch und euren Familien?

Denis: Die Ereignisse sind natürlich schrecklich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass so etwas in der Ukraine passiert. Ich glaube, keiner in der Welt konnte sich das vorstellen. Die Emotionen schießen durch die Decke, aber sowohl dort als auch hier muss man sich zusammenreißen und versuchen, darüber nachzudenken, wie man den Menschen helfen kann.

Elza: Ich denke, in der Ukraine geht es vielen Menschen schlechter als mir und meiner Familie. Wir haben deshalb immer das Gefühl, ihnen helfen zu wollen. Ich habe bemerkt, dass viele dieselbe Gefühlsspirale durchlebt haben: Am Anfang war alles ganz schockierend, dann – etwa drei, vier Tage später – gab es erste Sanktionen und wir bekamen Hoffnung. Aber der Krieg ging weiter und wir hatten wieder diese kleine Depression, da einfach keine guten Nachrichten kamen. Ich persönlich hoffe vor allem, meinen Mann und meine Familie bald wiederzusehen.

Jana: In den ersten drei, vier Tagen war ich schockiert und wollte alles gleichzeitig machen, was im Nachhinein etwas destruktiv war. Jetzt mache ich mir natürlich Sorgen und hoffe, dass bald Essenslieferungen und humanitäre Hilfe in die Region meiner Familie gelangen kann. Ich frage mich, wie es sein kann, dass meine Familie dort ist und ich hier. Und ich bin jeden Tag dankbar, dass ich Essen habe, mein Zimmer warm ist und dass ich hier Unterstützung habe – und Geld. Das wünsche ich mir für alle Frauen und Kinder in der Ukraine.

Alisa: Ich höre gerade, wie es den anderen geht und finde es unglaublich, wie ähnlich unsere Gefühle sind. Jeden Morgen wache ich auf und denke kurz, alles war ein Albtraum. Dann folgt die Realisierung, dass es tatsächlich Realität ist, so hart und bitter es auch sein mag. Zuflucht von der Verzweiflung und Hilflosigkeit finde ich in der Freiwilligenarbeit. Was mich inspiriert, ist dieser ukrainische Geist, den wir in dieser Situation gestärkt haben und der uns Halt gibt.

Oksana: Ich fühle mit den anderen mit, bin aber auch wütend darüber, wie der Angriff gerechtfertigt wird: Die Ukraine soll „entnazifiziert“ werden – das haben wir bis vor dem Krieg für einen schlechten Witz gehalten. Dass jetzt Kinder sterben, weil sie Nazis sein sollen, ist fernab von jeder Logik und für uns alle schwer zu begreifen.

Am 24.2.2022 marschierten die ersten russischen Truppen in der Ukraine ein, somit war der Angriffskrieg eröffnet. Wann und wie habt ihr davon erfahren?

Daria: Bei mir war es so, dass mein Schwiegervater um halb sechs an meiner Tür geklopft hat und ich sofort Bescheid wusste. Ich konnte mich aber zehn Minuten nicht bewegen und erstmal nicht auf mein Handy schauen, weil ich so geschockt war.

Elza: Ich bin um zehn Uhr aufgestanden, ganz spät eigentlich. Das erste, was ich gelesen habe, waren die Nachrichten von meinem Mann. Wir hatten geplant, im März nach Warschau zu fahren, und mein Mann schrieb mir: „Elza, wir fahren später nach Warschau“. Das hatte er um fünf Uhr geschrieben. Er erwähnte nichts von Angriffen oder Krieg, aber ich habe verstanden, was passiert war.

Sofia: Es war vier, fünf Tage vor meinen Prüfungen. Als ich aufgestanden bin, habe ich gesehen, dass mir gefühlt tausend Menschen geschrieben hatten: „Sofia, wir haben hier Krieg“. Dann habe ich Verwandte angerufen, die mir erzählt haben, dass sie aus Kyiv fliehen oder dass sie bleiben. Ich bin sehr froh, dass meine enge Familie absolut ruhig geblieben ist: Mein Vater sagte, ich sollte mir keine Sorgen machen und mich auf meine Prüfungen konzentrieren.

Jana: Ich hatte viele Pläne für Donnerstag, ich bin Übersetzerin und wollte ein Projekt beenden. Dann bekam ich eine Nachricht von einer Kommilitonin, die sagte, sie mache sich Sorgen wegen dem, was in der Ukraine passiert. Ich dachte mir „Was meint sie?“, und habe die Nachrichten geöffnet. In dem Moment hatten schon viele Raketen die Ukraine erreicht.

Tetiana: Letzte Woche hatte ich Urlaub und habe meinen Bruder in Estland besucht. Es war ausgerechnet die Woche, in der die ersten Raketen auf die Ukraine geschossen wurden. Ich habe den ganzen Tag geweint, auch am Flughafen. Immerhin hatte ich meinen Bruder, wir konnten uns in der Situation gegenseitig unterstützen. Es war kein richtiger Urlaub, wir haben den ganzen Tag Nachrichten gelesen und sind nur ab und zu herumgelaufen oder haben etwas gegessen, um uns abzulenken.

Wie geht ihr mit der Nachrichtenflut zum Krieg in der Ukraine um?

Tetiana: Als ich nach meinem Urlaub wieder arbeiten musste, konnte ich mich schwer konzentrieren. Bei einem „Routine-Job“ ist es vielleicht einfacher, aber als Doktorandin muss ich aktiv Artikel lesen, nachdenken und programmieren. Meine Biophysik-Experimente fühlen sich gerade einfach irrelevant an, da ich den Drang habe, stattdessen Menschen in der Ukraine zu helfen oder Falschinformationen im Internet zu bekämpfen. Ab und zu gehe ich mit Freund*innen im sonnigen Freiburg spazieren, das hilft. Wir reden dann zwar auch über Politik, scrollen aber nicht in den Nachrichten. Außerdem versuche ich, eine tägliche Routine zu behalten, um mich einigermaßen normal zu fühlen.

Den solidarischen ukrainischen Geist hat Alisa schon erwähnt – wie findet ihr es, dass sich gerade eine Art Nationalstolz in der Ukraine breitmacht, gerade in Bezug auf die ukrainische Armee?

Elza: Dass das passiert, ist angesichts der Situation logisch. Ich hätte aber nicht gedacht, dass die Bewegung so stark wird. Es haben sich bereits mehr als genug Menschen für die freiwillige Armee gemeldet, ihnen fehlt nur die Ausrüstung. Ansonsten sind sie sehr motiviert und optimistisch, das höre ich zum Beispiel von meinem Vater. Klar haben sie auch Angst, aber viele sind bereit, für die Ukraine zu sterben. Das finde ich unglaublich. Der Stolz bezieht sich auch nicht nur auf die Armee, sondern auch auf unsere Kultur. Menschen aus allen Bereichen setzen sich gerade für die Ukraine ein, das sieht man schon an unserer Runde und macht mich stolz.

Jana: In der Ukraine sagt man gerade „Wir glauben nicht an Gott, wir glauben an unser Militär“. Es motiviert Leute, positiv zu bleiben. Es macht mich nicht glücklich zu hören, wie viele russische Soldaten wir schon ermordet haben. Aber ich verstehe, dass wir keine andere Möglichkeit haben, weil die russischen Soldaten in unser Land gekommen sind um uns zu töten.

Wie ist es für euch, wenn sich eure Angehörigen freiwillig für die Armee melden?

Elza: Mein Mann ist Pianist, er kann wenig mit Waffen anfangen. Aber wenn er sich entscheiden würde, zur Armee zu gehen, würde ich ihn unterstützen.

Oksana: Ich finde es wichtig, dass wir in westlichen Medien erklären können, weshalb diese Angst-Frage für uns weniger groß ist: Wir haben weniger Angst zu sterben, als unter Russlands Regime und deren Lügen zu leben. Es ist keine Zukunft, die wir für uns und die nächsten Generationen sehen. Das bezeichnet die ukrainische Mentalität – wir denken gerade nicht an unser eigenes Leben, sondern an den Zusammenhalt. Wir haben unsere Demokratie und dafür kämpfen wir. Daran denken wir auch, wenn sich unsere Angehörigen für die Armee melden.

Ich habe von russischen Studierenden gehört, die sich für Putins Handlungen schämen und sich dafür einsetzen, dass die russische Bevölkerung sich gegen das Regime stellt. Doch in ihrem Heimatland ist dies nahezu unmöglich, ohne dafür bestraft zu werden. Was erwartet ihr aktuell von Russ*innen?

Sofia: Uns ist klar, dass der Krieg nicht „Russland gegen die Ukraine“ ist. Es ist ein Krieg zwischen „Putins Freunden“ und der Ukraine. Deshalb denke ich nicht, dass die russische Bevölkerung in der Schuld steht. Wir haben ja eine ähnliche Geschichte und Mentalität. Viele junge Menschen – auch Freunde von mir – sind sehr Anti-Putin und möchten etwas gegen den Krieg tun. In Europa und Amerika zum Beispiel werden Russ*innen aber gerade angefeindet, was ich nicht in Ordnung finde. Das führt nur zu mehr Hass! Sie brauchen eher Hilfe dabei, ihre Regierung zu stoppen.

Tetiana: Ich glaube nicht, dass es nur von Putin ausgeht. Das ganze Land müsste seine Mentalität verändern, sonst kann Putin vom nächsten Diktator ersetzt werden und es geht weiter wie bisher. Deshalb müssen die Menschen sich bei unabhängigen Medien informieren und auf die Straße gehen.

Alisa: Ich kämpfe dagegen, dass sich mein Verhältnis zu Russ*innen ändert. Es gibt aber eine emotionale Ebene, auf der gewisse negative und schmerzhafte Assoziationen entstehen, wenn ich aktuell etwas aus Russland höre. Darüber hat man keine Kontrolle. Trotzdem beunruhigt es mich, dass russlandstämmige Menschen gerade überall auf der Welt vermehrt angegriffen werden und aggressives Verhalten erfahren. Die Tendenz zur wahllosen Feindlichkeit gegenüber Russ*innen aufgrund ihrer Nationalität halte ich für destruktiv.

Oksana: In Russland hat die Propaganda natürlich einen großen Einfluss, auch wenn immer mehr Menschen dagegen aufstehen. Meine Message ist: Wir haben keinen Hass auf die Menschen in Russland, die den Krieg nicht unterstützen. Unsere Bitte an sie ist, dass sie in ihren Familien über die Situation reden und versuchen, über Propaganda aufzuklären und die Ereignisse richtigzustellen.

Was sollte die Öffentlichkeit in Deutschland über den Krieg in der Ukraine wissen?

Jana: Es ist wichtig, dass sich Menschen in Deutschland vielseitig informieren, auch über internationale Quellen. Außerdem müssen sie wissen, dass der Krieg gegen die Ukraine auch ein Krieg gegen die Demokratie ist, dafür muss Europa Verantwortung übernehmen.

Tetiana: Wir sind wirklich dankbar für die Aufmerksamkeit und die Spendenbereitschaft zurzeit. Allerdings fragen wir uns, wie es wird, wenn dieses „Peak“ der Aufmerksamkeit vorbei ist: Es wäre schrecklich, wenn in deinem Land Krieg ist und die Medien nicht mehr darüber reden.

Oksana: Ich möchte an Politiker*innen appellieren, die die Entwicklungen verschlafen haben. Sie haben so lange Putin unterstützt und mit ihm Geschäfte gemacht, obwohl es in der Ukraine schon seit acht Jahren einen Krieg gibt. Jetzt demonstrieren wir dafür, dass westliche Länder die Ukraine unterstützen, insbesondere mittels scharfer Sanktionen gegen Russland und in der Luftabwehr durch Flugzeuglieferungen. Wir wollen alle keinen dritten Weltkrieg – wir müssen nur unsere Bevölkerung schützen!

Hinweis der Redaktion: Das Gespräch wurde am 06.03.2022 geführt.