Dieses Interview ist Teil der Themenwoche Rausch & Realität.


Herr Schubert, Sie sind Politikwissenschaftler an der Uni Freiburg und beschäftigen sich unter anderem mit Queer Theory. Was ist Chemsex?

Chemsex bezeichnet eine sexuelle Kultur, die in den 2010er Jahren in den urbanen Zentren entstanden ist. Sie wird vor allem betrieben von schwulen, bisexuellen und queeren Männern, die sich verabreden, um Drogen zu nehmen und Sex zu haben. In Kontakt kommen die Männer über Hook-Up-Apps wie Grindr. Das Ganze findet meist in längeren Sessions und in einer Gruppe in privaten Räumen statt.

Karsten Schubert beschäftigt sich in seiner Forschung unter anderem mit Queer Theory.

Welche Funktionen haben die Drogen?

Die Drogen werden in der Forschung, die vor allem auf qualitativer Sozialforschung, wie Interviews, beruht, hauptsächlich als enthemmend beschrieben. Doch die Bedeutung solcher Enthemmung wird in der Berichterstattung über Chemsex häufig nicht richtig eingeordnet.

Es gibt in der Literatur zwei verschiedene Lager, die Chemsex unterschiedlich beschreiben und problematisieren. Einmal gibt es den pathologisierenden und individualisierenden Ansatz, der in der medialen Berichterstattung und in der medizinischen und psychologischen Literatur über Chemsex vorherrscht.

Ab 2010 bekam das Thema vor allem in England eine größere Aufmerksamkeit, wobei es hauptsächlich als Gesundheitsproblem verhandelt wurde, insbesondere auch bezüglich des Risikos einer HIV-Übertragung. In den Medien wurde es als eine Art allgemeine Krise der schwulen Männer dargestellt, die nur wegen psychischer Probleme diese ansonsten völlig unverständlichen, risikobehafteten Sexualpraktiken eingingen. In diesem Zusammenhang wird dann oft über Enthemmung gesprochen. Die typischen Erklärungen für Chemsex sind dann, dass schwule Männer Homophobie und Einsamkeit ausgesetzt seien und nie gelernt hätten, richtige Beziehungen einzugehen. Als Reaktion auf diesen minority stress, wie man das in der Psychologie nennt, greifen sie laut diesem Ansatz zur Droge, um diesen Problemen zu entkommen.

In diesem Ansatz geht es darum, dass Chemsex eine problematische, pathologische Praktik sei, die auf ein Problem hindeute. Außerdem geht es um die individualpsychologischen Einzelschicksale, die betrachtet werden, um zu verstehen, warum sich eine Person an einer solchen Praktik beteiligt, unter der Annahme, dass sich “normale” Personen nicht daran beteiligen würden.

Im Gegensatz dazu gibt es eine queertheoretische Forschung, die Chemsex als kulturelle Praxis anerkennt, die eine eigenständige Wertigkeit für die Menschen hat, die daran partizipieren. Die Enthemmung wird dabei weniger als Problem, sondern als das queere Moment an Chemsex gesehen. Mit dem Aufkommen der Humanwissenschaften wird seit dem 19. Jahrhundert Sexualität immer mehr normiert und medizinisch erfasst. Wir alle, egal ob queer oder hetero, bewegen uns in sehr rigiden Vorstellungen von guter oder schlechter Sexualität. In der queeren Literatur wird Chemsex als eine heutige Form der Sexualität schwuler Männer betrachtet, die es erlaubt, kreativ neue Praktiken auszuleben und auch neue Formen von Community zu bilden, die ein gemeinsames Erleben der Körper und des Beisammenseins ermöglichen. Die Enthemmung, die durch die Drogen verursacht wird, habe dabei die Funktion, aus den vorgegebenen Normen von Sexualität auszubrechen.

Warum sind es hauptsächlich schwule Männer, die Chemsex praktizieren?

Da muss man erst einmal fragen, im Gegensatz zu wem. Zusammen mit Kolleg*innen beschreibt der Queer-Theoretiker und Kulturwissenschaftler Kane Race, dass die Verwendung von Drogen, Alkohol miteingeschlossen, zur Enthemmung und Ermöglichung von Sexualität ein Phänomen ist, das unsere Kultur insgesamt bestimmt.

Der Begriff der Hemmung wird in der frühen Drogenforschung ab dem 19. Jahrhundert als biologisch verstanden. Es gibt nach dieser frühen Forschung eine quasi gesunde Funktion der Gehemmtheit, durch die man “normal” in der Gesellschaft funktioniert. Wenn man sich mit Drogen intoxikiert, passiere etwas im Gehirn, was diese Hemmungen abbaut. Die Vorstellung ist, dass die Drogen nichts Neues kreieren, sondern die Bremsen wegnehmen, die normalerweise da sind. Das sei dann die Enthemmung.

Race et al. argumentieren, dass die Benutzung von Drogen in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Dinge bedeuten. Unsere westliche Kultur ist stark geprägt von diesem biologistischen Bild der Mechanik und der Aufhebung der Enthemmung durch chemische Stoffe. Sie analysieren, wie diese biologische Erzählung, die im Alltagsverstand angekommen ist, sozial benutzt wird als ein Vorwand, aus den rigiden Sexualnormen auszubrechen. Bei Heterosexuellen ist das vor allem der Alkohol, der oft als Vorwand dient, um sich enthemmt zu benehmen und sich nicht an die engen, moralischen Regeln zu halten, wodurch sexuelle Interaktion eher möglich wird.

Wenn einerseits die Rigidität und andererseits der Bezug auf Drogen, um sich Freiräume zu schaffen, so stark in unserer Kultur verankert sind, dass schon Heterosexuelle ihre Sexualität so enthemmen, dann kann man sich vorstellen, dass dieser Effekt bei queeren Menschen, deren Sexualität kontinuierlich abgestraft wurde, noch stärker ist.

Für Schwule war diese kulturelle Verbindung zwischen Drogen und Enthemmung wichtig, vor allem als Homophobie noch stärker war als heute: Da wurde Drogen oder Alkohol genutzt, um kleine Freiräume schaffen, in denen die einengende Identifizierung mit den eigenen Handlungen aufgebrochen wurde. Ein nichtgeouteter Mann konnte so kurz schwules Begehren zeigen und danach sagen: Um Gottes Willen, war ich betrunken, so bin ich ja gar nicht!

Die Statistiken zeigen, dass sich langfristig aus dieser stärkeren Notwendigkeit eine stärkere Substanzbenutzung bei queeren Menschen insgesamt, aber vor allem bei schwulen Männern entwickelt hat. Drogen haben abweichende Sexualität schon immer begleitet. Als sich in den 70ern schwule urbane Kultur entwickelt hat, insbesondere mit der Disco-Kultur, wurden Drogen immer wichtig. Das Neue an Chemsex ist, dass das Internet dazu kommt und dass es zu Hause stattfindet, statt in Clubs oder Bars.

Das hängt mit dem Neoliberalismus zusammen, wie Jamie Hakim zeigt. In London, wo das Phänomen des Chemsex am stärksten diskutiert wird, aber auch sonst überall, sterben die queeren Orte aus. Diese Community-Orte sind wichtig, und ohne sie ist die neoliberale Individualisierung ein großes Problem für queere Menschen. Gleichzeitig gibt es jetzt Apps, durch die Kontakte hergestellt werden. Das sind die neuen Formen des Zusammenkommens. Auch die Migration ist ein Treiber der Verbreitung von Chemsex in London: In der Metropole kommen täglich queere Menschen an und suchen Anschluss in der queeren Community. Wenn es dann die queeren Institutionen, vor allem die Bars, nicht mehr gibt, ist die Community, die mit Chemsex einhergeht, umso wichtiger.

Wie kann man sich das vorstellen, wenn sich Menschen treffen, um Chemsex zu praktizieren?

Die qualitativen Studien, die auf Interviews, und teilweise auch auf teilnehmender Beobachtung beruhen, zeigen, dass es um Treffen mit mehreren Menschen geht. Treffen zu zweit werden normalerweise nicht mit dem Wort “Chemsex” beschrieben. Die Dauer kann sehr unterschiedlich sein, meist ist aber von längeren Zeiträumen die Rede, von mehreren Stunden bis zu mehreren Tagen. Die Drogen führen auch dazu, dass die Teilnehmenden nicht schlafen müssen. Über diesen Zeitraum können die Konstellationen auch wechseln. Es können auch neue Leute dazukommen, die zum Beispiel über Grindr eingeladen werden. Natürlich haben die Teilnehmer nicht ununterbrochen Sex. Deshalb betont auch die queere Forschung dazu, dass es nicht nur um Sex geht, sondern vielmehr um ein queeres “world-making”, also eine eigene soziale und kulturelle Welt zu schaffen, die einen Ausbruch aus dem heteronormativen Alltag erlaube und andere, intensivere Gemeinschaft ermögliche.

Welche positiven Effekte kann Chemsex für das schwule Selbstempfinden haben?

Die queere Literatur geht eher affirmativ an diese Praxis heran. Sie negiert die Probleme nicht, die aus einem solchen Drogengebrauch resultieren können, aber insgesamt versteht sie sich als eine Gegenstimme zu diesem pathologisierenden und skandalisierenden Blick der Öffentlichkeit. In dieser Literatur wird Chemsex als Teil der schwulen Identitätspolitik gesehen. Der Queer-Theoretiker João Florêncio beschreibt es sogar als Teil einer queeren Pädagogik, bei der mit neuen Identitätsformen experimentiert wird. Dabei werde Community und dadurch letztlich eine freiere Sexualität und Identität geschaffen. Durch Chemsex entstehe demnach eine sexuelle Kultur, die anderes ermögliche als die repressive Mainstream-Kultur, die stark in den Köpfen der Menschen vorherrscht.

Welche Gefahren birgt Chemsex?

Es besteht ein Abhängigkeitspotential, nicht nur bezüglich der Drogen, sondern in Bezug auf die ganze Praxis, weil sie durch die andere Art der Gemeinschaft einen Ausbruch aus dem Alltag ermöglicht. Betroffene, die an solcher Abhängigkeit leiden, berichten von einer starken Fokussierung darauf, und dass sie nur noch von Wochenende zu Wochenende leben. Auch der Drogenkonsum kann problematische gesundheitliche Auswirkungen haben. Umso wichtiger wäre es, den gesundheitspolitischen Umgang damit so zu ändern, dass Chemsex nicht pathologisiert, sondern als eine Kulturpraxis betrachtet wird. Es sollten nicht-pathologisierende Beratungsangebote geschaffen und Drug-Checking ermöglicht werden. Es ist nötig, über die Gefährlichkeit der Drogen aufzuklären, ohne den Gebrauch zu verbieten. Das ist aber ein Problem der nicht funktionierenden Drogenpolitik in diesem Land, das über diese spezifisch schwule Drogenpraxis hinausgeht.

Wenn man betrunken ist oder unter Drogeneinfluss steht, ist die Entscheidungsfähigkeit und damit auch die Möglichkeit nach Einvernehmlichkeit eventuell eingeschränkt. Wie schätzen Sie die Konsensfähigkeit bei Chemsex ein?

Das ist natürlich ein Problem und zwar eines, das erfreulicherweise zunehmend diskutiert wird. Den Me-Too-Diskurs im Feminismus kann man allerdings nicht einfach so auf die schwule Sexualkultur übertragen, weil diese anders funktioniert als die heterosexuelle und Enthemmung eine große Rolle spielt, gerade bei solchen Partys. Auf der anderen Seite gibt es Berichte von sexualisierter Gewalt, auch in diesen Kontexten. Die beziehen sich in erster Linie auf das Problem, dass insbesondere die Droge GHB zu Bewusstlosigkeit führen kann – was auch gesundheitlich hochgefährlich ist –, die dann ausgenutzt werden kann. Es ist wichtig, dies von “high-sein” zu trennen, das nicht automatisch dazu führt, dass kein Konsens möglich ist. Die Diskussionen über diese Fragen fangen jedoch gerade erst an, und es gibt noch keine richtigen Antworten.

In diesen gemeinschaftlichen Praxen entwickeln sich aber ethische Standards. Dabei gibt es auch eine gewisse Kontrolle und Verhaltenserwartungen. Die Praxis des Drogennehmens ist gefährlich und die Forschung zeigt, dass die Teilnehmenden gegenseitig für sich sorgen, auch bezüglich der Konsensfähigkeit. Es gibt verschiedene Techniken und Safer-Use-Praktiken, zum Beispiel, dass in einer Excel-Tabelle die Zeitpunkte der Drogeneinnahme festgehalten werden. Grundsätzlich ist das eine ethische Praxis, insofern die Teilnehmenden aufeinander achten, aber ein Problem ist der Konsens trotzdem in dieser Situation der Enthemmtheit.

Wenn alle Menschen ihre Sexualität frei ausleben könnten – würde es da noch Chemsex geben?

Ich glaube nicht, dass ein Zustand, in dem sexuelle Subkulturen sich einebnen und alle das Gleiche machen, ein wünschenswerter Zustand ist. Einerseits sind die kreativ entwickelten Sexualpraktiken in der schwulen Kultur und anderen queeren Subkulturen immer auch als Reaktion auf die Verhältnisse zu beschreiben. Das entwertet sie aber nicht. Das ist, glaube ich, der zentrale Unterschied der queeren Literatur zu der pathologisierenden Literatur, die diese Kulturtechniken nur als Symptom eines Problems sieht, statt ihnen mit Respekt und Anerkennung zu begegnen. Wenn man sie nur als Symptom von Repression sieht, könnte man auf die Idee kommen, es wäre ein Zeichen für gesellschaftlichen Liberalisierung, wenn sie verschwinden, quasi nicht mehr nötig seien. Ich finde dagegen eine subkulturelle Diversitätspolitik sinnvoll, die Vielfalt unterstützt.

Wie gesagt ist bei Chemsex ist auch der neoliberale Hintergrund wichtig für die Analyse, sowohl wissenschaftlich als auch queerpolitisch. Queere Institutionen wie Bars, Clubs und Theater, in denen sexuelle und andere Minderheiten zusammenkommen können, sind von großer Bedeutung für queeres Leben. Ich denke, dass es einen starken Zusammenhang gibt zwischen dem Verschwinden dieser Orte der Minorisierten und der Entwicklung dieser Praxis des Chemsex. Wenn wir den urbanen Raum als Queers zurückerobern und Institutionen verteidigen und Neue schaffen, dann können auch die affektiven Beziehungen und das sexuelle Experimentieren stärker in solchen Räumen stattfinden, mit oder ohne Drogen.