In einem kleinen Büro mit langer Bücherwand sitzt eine Wissenschaftlerin aus Bielefeld an einem der Schreibtische. Sie forscht zur Wahrnehmung des zweiten Weltkriegs durch die deutsche, nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft. Dafür liest sie in den Tagebüchern, Erinnerungen und Briefen dieser Menschen. In den Regalen an der Wand stehen unscheinbare, schwarze Bücher, die mit Nummern versehen sind. Es sind Kopien von Tagebüchern.

Wir befinden uns im Deutschen Tagebucharchiv, das 1998 von Frauke von Troschke gegründet wurde und seinen Sitz im Alten Rathaus in Emmendingen hat, einem beeindruckenden Gebäude aus dem 18. Jahrhundert. Momentan befinden sich mehr als 24.000 Dokumente im Archiv.

Ein Teil der Originale der Tagebücher befindet sich im Magazin einen Raum weiter, in dem auch archiviert und konferiert wird. Jutta Jäger-Schenk, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Archivs, öffnet einen der hellgrauen, ebenfalls nummerierten Pappschubern, um ein Beispiel-Tagebuch zu zeigen. Zwei große, in Stoff gebundene Bücher kommen zum Vorschein: Es handelt sich um Reisetagebücher. Diese seien allerdings nicht repräsentativ für den Bestand des Tagebucharchivs, sagt Jäger-Schenk, denn diese Bücher bestehen hauptsächlich aus Fotos. Fotos nehme das Archiv nur an, wenn die Bilder von autobiografischen Aufzeichnungen begleitet sind. Das ist bei diesen der Fall, neben den Fotos sind Texte zu lesen, die mit der Schreibmaschine geschrieben sind.

Eine Treppe führt vom Museum, das von allen besucht werden kann, in das Archiv, das nur Forscher*innen und Mitarbeiter*innen offen steht.

Wer die Tagebücher berühmter Menschen sucht, ist nicht ganz richtig im Tagebucharchiv in Emmendingen, denn hier findet man die Schriften von Privatpersonen. Jeder Mensch solle die Möglichkeit bekommen, eigene Dokumente abzugeben und sie der Forschung zur Verfügung zu stellen. „Das oberste Ziel des Tagebucharchivs“, sagt Jutta Jäger-Schenk, „ist, dass die Dokumente genutzt werden“.

Genutzt werden sie nicht nur von Historiker*innen, sondern von Wissenschaftler*innen aller möglichen Fachbereiche und Forschungsrichtungen: Von der Linguistik über Kulturwissenschaft bis hin zur Afrikawissenschaft. Die Forschenden kommen teilweise von weit her, aus Paris oder Boston, um im Archiv zu recherchieren. Forschungsthemen sind unter anderem „Müll und Recycling im Nationalsozialismus“, „Die Rolle der Frau im deutschen Kaiserreich“ oder auch „Einsamkeit seit 1850 – Wie reflektieren Menschen ihre Einsamkeit im Tagebuch?“.

Der historische Wert von Tagebüchern

Meistens werden die Dokumente nicht von den Schreiber*innen selbst, sondern nach deren Tod von ihren Angehörigen ins Tagebucharchiv gebracht. Manche Menschen wünschen sich sogar testamentarisch, dass ihr Nachlass ins Archiv gegeben werden soll, oft entscheiden die Angehörigen das aber auch selbst.

Wer sich zu Lebzeiten entscheidet, seine Tagebücher dem Archiv zu vermachen, ist sich meist des historischen Werts dieser Aufzeichnungen bewusst. Besonders Menschen, die den ersten oder zweiten Weltkrieg erlebt haben, möchten zur Erforschung der Alltagsgeschichte beitragen, die ihre eigene Lebensgeschichte maßgeblich geprägt hat, erklärt Jutta Jäger-Schenk.

Auch der Gedanke, eine Spur zu hinterlassen, gefalle vielen Menschen. „Es ist gelebtes Leben“, sagt Jäger-Schenk. „Tagebücher einfach wegzuschmeißen, das bringen viele nicht fertig.“

Es erscheint paradox, ein Tagebuch, das die persönlichsten und intimsten Gedanken enthält, in ein Archiv zu geben, wo es eingesehen werden kann. Jutta Jäger-Schenk erklärt: „Mit der Distanz, die man zum Geschriebenen hat, wenn man sich entscheidet, das Tagebuch einzureichen, fällt das leichter. Auch das Wissen, dass die, die es lesen werden, einen gar nicht kennen, hilft dabei.“

So geht es auch der Psychologin und Malerin Kiki S., die ihre Tagebücher nur regelmäßig ins Archiv gibt, weil sie in Mexiko lebt und ihr Emmendingen wie ein anderer Planet vorkomme. Würde sie in Deutschland leben, würde sie ihre Tagebücher nicht öffentlich machen wollen. Für sie ist das Schreiben eine Selbsttherapie. Das erzählt sie in einem Video, das man auf einem Bildschirm in einem Nebenraum des Museums ansehen kann. Während sie erzählt, blättert sie durch ihr Tagebuch, das hauptsächlich aus bunten Zeichnungen besteht, die sie später mit Texten füllt. Oft ist sie am Ende überrascht, was bei einem Tagebucheintrag herauskommt. „Tagebuch zu schreiben ist eine Art und Weise, mein Leben zu ehren“, sagt sie.

Durch Teile der Tagebücher von Kiki S. kann man virtuell auf dem Bildschirm blättern.

Warum schreiben Menschen Tagebuch?

So verschieden Tagebücher aussehen können, so verschieden sind auch die Intentionen und Beweggründe der Menschen, die sie schreiben. „Ganz oft schreibe ich, um mich selbst zu ordnen“, sagt Stefanie, die in Berlin Theaterwissenschaft studiert. „Ich habe oft das Gefühl, ich bin richtig chaotisch im Kopf. Wenn ich meine Gedanken auf das Papier gebracht habe, ist es zwar immer noch chaotisch, aber es scheint mir ein bisschen geordneter zu sein.“

„Tagebuch schreiben kann entlasten“, erklärt Jutta Jäger-Schenk. Es kann eine Ventilfunktion haben. Für viele stellt das Tagebuch auch eine Form der Alltagschronik dar, sie schreiben auf, was sie gemacht haben oder was ihnen passiert ist.

„Man möchte den Tag Revue passieren lassen und über die Geschehnisse des Alltags reflektieren“, sagt Robin Curtis, Medienwissenschaftlerin an der Uni Freiburg. Doch diese Reflexion finde nie unmittelbar statt: „Während etwas Gutes oder auch etwas Schlechtes passiert, ist es nicht möglich, eine Aufnahme davon zu machen, ob schriftlich oder audiovisuell. Man kann es immer nur reflektierend im Nachhinein machen.“ Tagebuch schreiben könne außerdem dabei helfen, das eigene Schreiben zu verbessern. Auch wenn man andere Medien als Tagebuch verwende, ob Film oder Instagram, lerne man dabei, besser mit dem Medium umzugehen.

Tagebuch zu schreiben kann auch eine Methode sein, sich in etwas zu verbessern oder künstlerisch auszuleben – ob es das Schreiben, Zeichnen oder Basteln ist.

Die Privatheit von Tagebüchern

Wie persönlich ist ein Tagebuch? „Wirklich privat wird es nie“, sagt Curtis. „Es wäre naiv zu sagen, dass man immer nur für sich selbst schreibt. So sehr man vielleicht versucht ehrlich zu sein, steht das Geschriebene zwangsläufig zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Wenn man wirklich so nah an die eigenen Gedanken herankommen könnte, wenn man so einen unmittelbaren Zugang zu den Gefühlen hätte, bräuchte es keine Psychoanalyse.“ Tagebuch zu schreiben bedeute immer auch zu stilisieren.

Auch Lukas, der Philosophie an der Uni Freiburg studiert, ist das beim eigenen Schreiben aufgefallen: „Tagebücher sind auch immer ein bisschen eine Selbstlüge. Man selektiert und präsentiert nur, was man für wichtig erachtet. Da fällt dann unglaublich viel weg.“

Bereits in Tagebüchern aus dem 19. Jahrhundert ist, wie in den heutigen auch, festzustellen, dass eher Krisen und Sorgen als glückliche Momente festgehalten werden, hat Jäger-Schenk festgestellt. Auch Stefanie schreibt hauptsächlich über Dinge, die sie belasten: „Ich schreibe eigentlich nur, wenn es mir schlecht geht. Ich schreibe auf, warum es mir schlecht geht, welche Gedanken in meinem Kopf sind, welche Ängste ich habe.“

„Das Tagebuch ist wie ein*e Gesprächspartner*in, der ich einfach alles erzählen kann“, sagt Lucie, die in Freiburg Erziehungswissenschaften studiert. Besonders in Jugendtagebüchern kann man das sehen. Darin wird das Tagebuch oft sogar mit Namen angesprochen. In einem der berühmtesten Tagebücher, dem „Tagebuch der Anne Frank“, werden die Tagebucheinträge an „Kitty“ adressiert. Beate Roberts, von der insgesamt 300 Hefte im Tagebucharchiv zu finden sind, beginnt ihre Tagebucheinträge mit „Liebe Silberfee!“.

Beate Roberts hat ihr Leben in über 300 unscheinbaren Ringblöcken und Heften festgehalten.

Sind Journals die neuen Tagebücher?

Eine Art modernes Tagebuch sind Journals aller Art. Sie sind in den letzten Jahren sehr beliebt geworden, gerne eingeschlossen in eine Morgenroutine zwischen der Yoga-Session und dem grünen Smoothie.

Beim sogenannten „Journaling“ gibt es oft feste Fragestellungen, die zu mehr Dankbarkeit, Achtsamkeit und dadurch zu weniger Stress verhelfen sollen. Ob diese Journals das klassische Tagebuch ersetzen können? „Es ist sicher einfacher für Menschen, die nicht so recht wissen, wie sie anfangen sollen zu schreiben. Nicht jede*r schreibt gern, aber Journals sind sicher eine gute Möglichkeit, den Alltag zu strukturieren, aus einer anderen Perspektive zu betrachten, und vielleicht helfen sie manchen, ihr Leben besser zu bewältigen“, sagt Jäger-Schenk. „Sie können eine Alternative zum Tagebuch darstellen, aber ersetzen werden sie es nicht. Sie sind etwas anderes, das Schreiben wird in eine bestimmte Richtung gelenkt.“

Für Robin Curtis wird im Journal einer der wesentlichen Aspekte des Tagebuchschreibens außer Acht gelassen: „Reflektieren kann man ohne Fragestellung. Das ist das Spannende am Tagebuch, dass man, sobald man den Stift in der Hand hält, überlegen muss, was man gerne schreiben will. Das ist nicht vorhersehbar. Das Journal mit fester Fragestellung kommt mir vor wie eine neoliberale Selbstoptimierungsstrategie, eine Verkaufsstrategie für Papierwaren.“

Viele der Tagebücher sind mit Fotos oder aufwendigen Zeichnungen versehen.

Was passiert mit Tagebüchern, wenn die*der Schreiber*in verstorben ist?

Was mit ihren Tagebüchern passieren soll, wenn sie einmal sterben, haben Lucie, Stefanie und Lukas unterschiedliche Vorstellungen. „Wenn ich alt bin, werde ich sie alle nochmal lesen und die peinlichen Texte rausreißen“, sagt Lucie. „Dann werde ich sie meiner Familie überlassen, falls sie das inspiriert und sie reinschauen wollen.“

Stefanie will nicht, dass nach ihrem Tod jemand ihre Tagebücher liest, auch wenn sie eigentlich gern eigene Texte teilt. „Da sind so intime Gedanken drin, ich kann mir im Moment nicht vorstellen, dass ich mal will, dass die jemand liest. Das soll weggeschmissen oder verbrannt oder irreversibel zerstört werden“, sagt sie. „Wenn ich nicht mehr bin, dann sollen auch meine Gedanken nicht mehr sein.“

„Mein Traum ist es, irgendwann selbst Texte zu veröffentlichen. Wer weiß, vielleicht kann ich Material aus meinen Tagebüchern verwenden, um Romane oder Geschichten zu schreiben. Kaputt machen werde ich sie jedenfalls nicht“, sagt Lukas. „Vielleicht werde ich sie einer Person geben, mit der ich verwandt bin. Ansonsten lasse ich sie verstauben. Vielleicht findet es jemand, die*der es interessant findet, oder sie werden weggeschmissen. Das wäre traurig, aber das interessiert mich dann auch nicht mehr.“

Tagebücher können so intim sein, dass man sie niemandem zeigen will. Tagebücher können Therapie oder eine Hilfe dabei sein, das Schreiben zu lernen. Tagebücher können historische Ereignisse festhalten oder Erinnerungen des eigenen Lebens an die Nachkommen übertragen. Tagebücher können Notizbücher und Ringblöcke sein, wie man sie im Tagebucharchiv finden kann. Aber auch Filme oder Instagram-Posts können die Funktion eines Tagebuchs erfüllen. Welche Form und Weise, ein Tagebuch zu führen, für einen selbst die richtige ist, muss wohl jede*r für sich selbst herausfinden. Es lohnt sich, es auszuprobieren.

Info

Das Deutsche Tagebucharchiv ist – nach vorheriger Anmeldung und Dokumentenbestellung – offen für Recherchierende, die wissenschaftliche Arbeiten schreiben.

Nach vorheriger Terminvereinbarung kann im Museum des Tagebucharchivs die aktuelle Ausstellung „Lebenslust – Lebenslast – Lebenskunst – Tagebücher erzählen“ besucht werden (im November 2020 bleibt das Museum aufgrund der Corona-Verordnungen geschlossen).