Herr Dr. Muske, was zählt eigentlich als Protestsymbol?

Ein Protestsymbol ist wie jedes Symbol ein Zeichen, das für etwas steht, also für eine bestimmte Gruppe eine bestimmte Bedeutung hat. Meistens taucht es auf Plakaten zuerst auf. Das Symbol entfaltet innerhalb der Proteste eine Wirkung, die von vielen Menschen schnell aufgenommen wird, sich weiterverbreitet, zu einem starken Zeichen wird und auch langlebig ist.

Ein bekanntes Beispiel ist die Anti-Atomkraftsonne. Das Symbol ist in den 1970ern in Dänemark entstanden. Eine Studentin hat es entworfen und es ist so ein positives, schönes Zeichen. Die lachende Sonne symbolisiert Offenheit und Dialogbereitschaft und hat sich über diese positive Botschaft ganz schnell verbreitet. Durch den “Atomkraft? Nein, Danke!” Schriftzug, den es in ganz vielen verschiedenen Sprachen gibt, ist aber auch die Botschaft ganz klar.

Dr. Johannes Müske ist Kulturanthropologe an der Universität Freiburg. 2019 hat er mit Studierenden im Uniseum eine Ausstellung zu Protest und neuen sozialen Bewegungen im Freiburg der 70er Jahre gemacht.

Wieso brauchen wir diese Symbole?

Symbole sind sehr sehr wichtig für Protestbewegungen. Mit ihnen gelingt es, ein Anliegen auf den Punkt zu bringen und zwar so grafisch und sichtbar wie möglich. Der Philosoph Ernst Cassirer hat auch vom Menschen als einem symbolischen Wesen gesprochen. Das ist eine grundlegende Eigenschaft des Menschen, sich seine Welt über Symbole zu erschließen. Das fängt bei einfach Dingen wie Straßenschildern an und geht bis zu komplexen Systemen wie Sprache. Das ist auch ein Symbolsystem.

Bei Protestsymbolen ist es dann so: Wie wird ein Anliegen greifbar? Kann man schnell wahrnehmen worum es geht? Das ist wichtig, so können sich Protestierende aneinander erkennen und sich unter einem Zeichen versammeln. So entfaltet ein Anliegen im Alltag eine Wirkung, auch wenn gerade keine Demo stattfindet.

Was macht Ihrer Meinung nach ein gutes Symbol aus?

Klare, einfache Bildsprache, eine hohe Wiedererkennbarkeit und leichte Reproduzierbarkeit. Ich kann mir schnell ein Plakat malen: Drei Striche drauf und ein Kreis, dann habe ich ein Peace-Zeichen. Das sind wichtige Merkmale für gute, starke Symbole.

Jetzt werden Protestsymbole gerne mal kommerzialisiert, ich denke da zum Beispiel an das Peace-Zeichen. Das kann man schon seit Jahren aufgedruckt auf T-Shirts oder als Schmuck kaufen. Schwächt das die Wirkung des Symbols ab?

Das passiert bei vielen Symbolen. Wissen – und Symbole sind auch Wissen – zirkuliert in der Welt. Natürlich gibt es da popkulturelle oder modische Aneignungen.

Ich persönlich habe damit kein Problem. Die Bedeutung von Zeichen kann sich  jederzeit erweitern und verändern über die Zeit. Das sind aber eher temporäre Trends. Wenn es wieder unmodern wird, ist das Zeichen wieder nur noch in seinem ursprünglichen Verwendungskontext präsent.

Es spricht eigentlich gerade für das Zeichen, wenn es noch in anderen Kontexten verwendet wird, weil es eben eine starke  Bedeutung im Alltag entfalten kann.

Wir haben bisher nur über grafische Zeichen als Protestsymbole gesprochen. Welche Rolle spielen Körper in diesem Zusammenhang?

Mit dem Körper wurde ja schon viel gemacht. Die Femen-Bewegung, also Nacktheit als Protest, spielt zum Beispiel eine große Rolle. Obwohl ich mir nicht sicher bin ob Nacktheit noch immer so schockiert wie vor 50 Jahren zum Beispiel und dann noch als Protest so richtig funktioniert.

Aber nicht nur der Körper sondern auch die Stimme kann große Macht entfalten. Auf der Montagsdemonstration 1989 in Leipzig durfte man sich ja auch nicht mit einem Schild auf der Straße blicken lassen, da wäre man als einzelne Person auf dem Weg zur Demo sofort verhaftet worden. Deswegen haben die Leute eben gerufen. Und von den vielen Ausrufen  hat “Wir sind das Volk!” die größte Schlagkraft entfaltet und wurde zum Schlachtruf der friedlichen Revolution.

Wie sieht es mit Abwesenheit als Symbol aus? Zum Beispiel ziehen sich Frauen im Iran auf öffentlichen Plätzen die Kopftücher herunter obwohl sie sich nicht ohne Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit zeigen dürfen…

Die Wirkungsweise ist im Prinzip dieselbe. Das Interessante ist, dass man es nur versteht, wenn man den Kontext kennt. Das ist natürlich immer eine wichtige Sache. Wenn ich nicht weiß, dass es im Iran eine Kopftuchpflicht für Frauen gibt, weiß ich auch nicht, was es bedeutet, wenn sich jemand das Kopftuch abnimmt. Nur wenn man den Streitpunkt kennt, können die Symbole auch ihre Wirkung entfalten.

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