Hallo Herr Mandel, Sie sind Akademischer Mitarbeiter am Romanischen Seminar und bieten dort auch Coachings für Studierende an und begleiten sie. Wie definieren Sie denn Selbstwertgefühl?

Ich würde vor allem mit einer positiven Definition des Selbstwertgefühls vorsichtig sein. Ich hätte die Sorge, dass Menschen diese dann als To-Do Liste aufgreifen, so wie man das manchmal auf Instagram sehen kann. Zum Beispiel „10 Faktoren, die dich glücklich machen“ oder „10 Orte, an denen du gewesen sein musst, um ein erfolgreiches Leben zu haben“. Wir sagen uns sonst, „Wenn wir das und das erreichen, fühle ich mich in meinem Wert bestätigt“.
Ich beschreibe das Selbstwertgefühl als die Würdigung dessen, was gerade ist. Also wer ich bin, was um mich herum ist, wo ich gerade bin. Zum Beispiel als studierende Person: Da habe ich einen Weg hinter mir, habe zum Beispiel Abitur gemacht und bestimmte Voraussetzungen erfüllt, und das gilt es zu würdigen.
Gilt es dabei auch negative Gefühle zu würdigen?
Unbedingt. Auch die sogenannten negativen Gefühle, die vielleicht unangenehm sind, zum Beispiel Scham oder Schmerz, sind aus einem Grund da. Nehmen wir eine Person, die neben dem Studium einen Job macht, um sich etwas finanzieren zu können. Vielleicht macht sie das, weil es ihr Spaß macht, vielleicht macht sie das aber auch deswegen, weil sie nicht genug Geld von ihrem Elternhaus mitbekommen hat. Und diese negativen Gefühle, die dadurch vielleicht entstehen, erfahren dann eine andere Würdigung, wenn ich sage „Wow, ich finanziere mein Studium gerade selber“. Das hat für mich ganz viel mit Selbstwertgefühl zu tun.
Machen Sie einen Unterschied zwischen Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein?
Ja, aber vielleicht nicht ein Unterschied im Sinne von entweder oder, sondern eher sowohl als auch. Selbstbewusstsein ist für mich eine Kognition, die mit Emotionen, also dem Selbstwertgefühl, zusammengehört. Die beiden gehen aber nicht immer simultan miteinander einher. Manchmal kann ich erst etwas fühlen und dann begreifen oder ich kann es erst kognitiv erfassen und dann stellt sich das Gefühl dazu ein.
Können Sie einen Unterschied des Selbstwertgefühls zwischen männlichen, weiblichen und diversen Studierenden feststellen?
Nein, das kann ich nicht.
Manche Menschen haben ein höheres Selbstwertgefühl. Warum ist das so unterschiedlich?
Eine von vielen Komponenten ist dabei für mich die Projektion. Also zum Beispiel sehe ich jemanden, der meiner Ansicht nach gut aussieht und ich schreibe der Person ein höheres Selbstwertgefühl zu. Oder ich sehe einen Menschen auf einer Bühne oder nach einer gut benoteten Klausur und dann geht vielleicht bei mir etwas an, was sagt, „Oh, das ist aber jemand, der muss viel Selbstwertgefühl haben“.
Hier möchte ich zum Innehalten anregen und fragen, was ich eigentlich über diesen Menschen weiß und ob hinter dieser Projektion nicht vielleicht ein Bedürfnis steckt. Etwas was ich brauche, was mir guttun würde. Ich habe immer wieder die Möglichkeit zu überprüfen, was gerade hier mit mir los ist und was ich gerade brauche.
Viele Menschen merken gar nicht, dass sie vielleicht durch ein geringes Selbstwertgefühl eingeschränkt sind. Wie kann man sich das bewusst machen?
Bewusst machen kann man sich das, indem man Fantasien in den Kontakt bringt. Zum Beispiel die Fantasie „die Leistung, die ich hier abgegeben habe, ist irgendwie zu schlecht“ oder „ich bin hier jetzt gerade irgendwie minderwertig rübergekommen“. Das wird Reality-Checks genannt.
Wir haben einen Film, der sich immer wieder bei uns abspielt, während sich bei unserem Gegenüber aber vielleicht ein ganz anderer Film abspielt. Reality-Checks deswegen, weil wir unseren Film überprüfen können, indem wir bei unserem Gegenüber einfach nachfragen, wie er*sie die Situation wahrgenommen hat. Und oftmals sagt die gegenüberliegende Person meistens dann was ganz anderes, als es unserem Film entspricht.
Wie kann man das Selbstwertgefühl stärken?
Ich habe vor etlichen Jahren eine Publikation gefunden, die ich richtig toll finde. Sie heißt „Self-Care and Self-Defense Manual for Feminist Activists”. In der Publikation finden sich sehr hilfreiche Angebote und Reflexionsübungen zur Stärkung des Selbstwerts. Aus der systemischen Richtung gibt es ebenfalls einen kleinen Schritt, den man jederzeit unternehmen kann. Man kann zum Beispiel fünf Freund*innen fragen, wie sie einen mit fünf Eigenschaften beschreiben würden. Oftmals sind uns unsere Ressourcen gar nicht bewusst. Dadurch, dass wir sie gespiegelt bekommen, kann uns bewusst werden, dass ich meine Stärken genauso zur Verfügung habe wie meine so-called „Schwächen“. Schwächen in Anführungszeichen, weil Schwächen auch eine Funktion haben.
Was kann man im Notfall tun, wenn man merkt, dass man gerade mehr Selbstwertgefühl gebrauchen könnte?
Ich gehe gerne über den Körper. Wenn ich merke, dass ich Stresssymptome bekomme, Unterleibsschmerzen oder Kopfweh zum Beispiel, frage ich mich, was diese Partie meines Körpers brauchen könnte. Vielleicht ist es Wärme, vielleicht ist es ein Eis, vielleicht ist es auch nur die frische Luft.
Ich ermuntere Studierende auch in meinen Seminaren dazu, zu sagen, wenn sich etwas am Programm ändern soll, und wenn ja wie. Vielleicht brauchen sie eine Pause oder etwas Aktivierendes, weil sie gerade aus der Mensa kommen und noch im Mensa-Koma sind. Oder man fragt, ob man kurz vor den Raum gehen kann. Ruhig mal mutig sein und das ansprechen. Vielleicht geht es nicht nur mir so, sondern den anderen auch.
Unter Studierenden wird darüber gesprochen, dass der Redeanteil der Männer in Seminaren häufig höher ist als der von Frauen*. Können Sie das bestätigen?
Ja, das ist etwas, das ich auch von Freundinnen kenne, die mit mir studiert haben.
Was kann man tun, damit sich das ändert?
Zum Beispiel würde ich mich an die Diversity-Stelle der Uni wenden, wenn mir das auffällt und auf den Keks geht, um das sichtbar zu machen. Ich würde mir Verbündete holen. Stärker werden hat viel mit Vernetzung zu tun. Dass man da zu zweit, zu dritt steht und eine Rednerinnenliste führt oder schaut, dass ausgeglichene Redebeiträge im Seminar stattfinden.
Bei uniCROSS beschäftigen wir uns aktuell mit dem Intensivthema Female* Empowerment. Was bedeutet Female* Empowerment für Sie – ohne eine perfekte Antwort geben zu müssen.
Wenn Sie das jetzt so sagen, dass die Antwort nicht perfekt sein muss, dann fällt mir direkt folgendes ein: When it’s about connection, it hasn’t to be right. Ich muss nicht perfekt sein, um mit anderen und mir in guter Beziehung sein zu können.