7Uhr. Schon eine halbe Stunde später als gestern. Was hätte ich in einer halben Stunde alles lernen können? Das dritte Kapitel physikalische Chemie wollte ich gestern nochmal durchgehen, das hätte ich jetzt schon machen können …

Mein Kopf tut wieder richtig weh, das dröhnt so unglaublich laut. Mir ist total schlecht und mein Bauch schmerzt genauso wie vor zwei Tagen. Wann hab ich nochmal die letzte Schmerztablette genommen? Ich glaube, vor dem Schlafen gehen hab ich zwei 600er genommen, aber ich weiß auch gar nicht mehr, wann ich geschlafen hab. Gefühlt hab ich überhaupt nicht geschlafen und bin schon wieder so im Rückstand …

Ich hab Angst, aufzustehen, eigentlich möchte ich den ganzen Tag nur im Bett liegen bleiben. Was soll heute anders werden als gestern oder letzte Woche? Ich will einfach nur noch, dass es vorbei ist!“

Dieses Gedankenkarussel gehörte für Emma* die ersten Semester ihres Chemiestudiums zur Normalität. Je näher die Prüfungen rückten, desto schlimmer wurde es. Schlafstörungen, Panikattacken, Übelkeit und Bauchschmerzen – sie akzeptierte es fast schon als Teil ihres Studierendenlebens. Bis sie letztes Jahr mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert und ihr bewusst wurde, dass sie jetzt etwas ändern muss.

Bin ich gut genug?

Viele Studierende kennen Versagensängste, die häufig in der Zeit der Prüfungsphase auftreten, sehr gut. Warum aber geht es manchmal so weit, dass sich der psychische Stress körperlich äußert?

„Je nachdem wie hoch die Anforderungen an einem Menschen sind, ist er nicht mehr in der Lage, diese Anspannung mit psychischen Mitteln zu regulieren, sondern reagiert dann sehr körperlich“, erklärt der Diplom-Psychologe Matic Rozman, Mitarbeiter im Team der psychotherapeutischen Beratung des Studierendenwerkes Freiburg.

Viele Studierende werden erst aktiv, wenn es eigentlich schon zu spät ist und der Körper so deutliche Signale zeigt, dass er überfordert ist. Das bestätigt auch der Diplom-Psychologe: „Wir beobachten immer einen deutlichen Anstieg der Zahlen in oder unmittelbar vor den Prüfungsphasen, im Januar und Februar und später im Juni, Juli. In dieser Zeit kommen viele zu uns, weil sie merken, sie sind in Stress geraten und kommen damit gar nicht mehr zurecht.“

Früher saß auch Emma häufig zwölf Stunden am Tag in der UB, manchmal ging sie danach noch kellnern. Nach ein paar Monaten bemerkte sie erste Symptome, ihr Kopf tat häufig weh, aber sie hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Am Ende nahm sie bis zu fünf Aspirin-Tabletten pro Tag, damit wenigstens die Kopfschmerzen erträglich waren.

„Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich meine Sachen unten in den Korb geräumt, meinen Rucksack ins Schließfach gelegt habe und mir schon die Tränen kamen. Natürlich war es damals total blöd, sich in dieser Verfassung und mit der Einstellung, dass es sowieso nichts bringen wird, zwölf Stunden in die Bib zu setzen. Ich wollte es mir selbst beweisen, dass ich es trotzdem schaffe.“

Diese Gedanken sind Matic Rozman nur allzu bekannt: “Das Denken wird in akuten Stresssituationen ein Stück weit außer Kraft gesetzt. Wir kennen es aus Angstsituationen, wenn man dazu neigt, zu übertreiben und sich in eine Situation hinein zu steigern. Viele Studierende erzählen mir immer ganz stolz, dass sie zwölf Stunden am Stück lernen. Ich frage mich jedes Mal, wer zwölf Stunden am Stück konzentriert lernen kann. Sicher kann man sich die Hälfte der Zeit sparen und etwas Schönes unternehmen.“

Immer früher und länger – exzessives Lernen in der Prüfungsphase

Gerade in den Prüfungsphasen, geht man die vollbesetzten Gänge der Lesesäle entlang und schaut in die teils verzweifelten, teils müden und schlappen Gesichter, stellt sich die Frage, wer sich überhaupt an das sinnvolle Lernen hält. Um nach neun Uhr noch einen Platz in der Bib zu bekommen, bedarf es mehr Glück als beim Lottospiel. Die meisten verlassen den hart erkämpften Platz auch erst wieder in den Abendstunden. Viele sagen sich: Wenn es also jeder macht, warum sollte ich es dann nicht auch machen?

„Erstmal  gibt es eine Schwelle, die sehr individuell ist, wie viel Stress man aushalten kann. Manche Menschen sind sehr resistent, manche viel weniger. Wir sehen das oft nicht von außen, denn nur weil eine Person von außen ruhig wirkt, heißt das noch lange nicht, dass sie keinen Stress hat“, erklärt Dr. Andrea Kuhnert, Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Uni Freiburg.

… nur weil eine Person von außen ruhig wirkt, heißt das noch lange nicht, dass sie keinen Stress hat.

Auch Emma fragte sich früher immer wieder, warum sie so große Probleme mit dem Stress während der Prüfungsphase hatte, wohingegen ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen sehr resistent wirkten.

Doch der wahre und der nach außen transportierte Gemütszustand der Anderen stimmen nicht immer überein. Viele Studierende sprechen zwar über Probleme und zu viel Stress im Studium, aber nur bis zu einem gewissen Punkt: „Ich treffe mich häufig mit zwei Freunden aus dem Studium und wir reden darüber, dass uns die bevorstehende Prüfung echt stresst und wir zum Beispiel Angst haben, sie nicht zu bestehen. Aber keinem von beiden habe ich bisher erzählt, dass diese Angst so weit reicht, dass ich seit einem Jahr in psychologischer Beratung bin“, berichtet ein Student, der anonym bleiben möchte.

Darüber zu diskutieren, ob Klausuren gut oder schlecht sind, sei nicht zielführend, sagt der Diplom-Psychologe. Denn Klausuren sind erstmal vorgegeben und können nicht wegdiskutiert werden. Somit sind Prüfungssituationen Stresssituationen, durch die jeder Studierende durch muss. Es gehe demnach viel weniger um eine Bewertung des bestehenden Systems als vielmehr um die Frage, wie Studierende die Prüfungssituation für sich nachhaltig so gut wie möglich gestalten können, sagt Matic Rozman.

Trotz Prüfungsstress seinen Alltag bewältigen

Der erste Schritt aus dem Stress herauszukommen ist, zu akzeptieren, dass man mit der aktuellen Situation überfordert ist. Matic Rozman sagt: „Die erste Aufgabe besteht darin, den betroffenen Personen deutlich zu machen, dass es sinnvoll ist, Zeit in Entspannungstechniken zu investieren. Gerade Menschen mit sehr viel Prüfungsangst fangen häufig an diesen Stellen an, Zeit einzusparen. Sie treffen weniger Freunde, machen nichts mehr für sich und machen auch keinen Sport mehr. Die wenigsten schaffen es, sich an diesen Vorsatz zu halten, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Entspannung zu finden. Dabei kennen wir diesen Ansatz aus dem Leistungssport: Je mehr trainiert wird, desto mehr Zeit wird in die Regeneration investiert. Dieser Ansatz muss unbedingt auch auf das Lern – und Arbeitsverhalten übertragen werden.“

Emma erinnert sich noch gut daran, wie sie sich am Anfang über jegliche Art von Achtsamkeitstraining oder Entspannungsübungen lustig gemacht hat: „Ich bin doch kein Guru und zünd mir jetzt mein Räucherstäbchen an. In meiner Vorstellung haben so etwas nur alte, schrullige Leute gemacht, aber ich habe mit so etwas doch nichts am Hut! Irgendwann dachte ich mir aber auch: Was hab ich schon zu verlieren? Außerdem sieht mich ja keiner. Mittlerweile weiß ich von vielen Personen aus meinem Freundeskreis, dass sie regelmäßig meditieren und verschiedene Entspannungstechniken anwenden.“

Natürlich ist keine dieser Methoden beim ersten Mal gelernt. Achtsamkeitsübungen oder PMR – progressive Muskelentspannung – funktionieren wie Fahrradfahren. Je öfter man sie übt, desto sicherer klappen sie, auch in Stresssituationen.

Wenn Emma jetzt morgens ihren Wecker hört, nimmt sie sich die Zeit, sich auf den anstehenden Tag zu freuen. „Was man schon alles hätte machen können, wenn man früher aufgestanden wäre? Das kann niemand mehr rausfinden, aber man kann gucken, was man heute noch alles schaffen kann.“

*Name geändert.