Das Engländerunglück

Am Morgen des 17. April 1936 brechen 27 englische Schüler mit ihrem Lehrer von ihrer Jugendberge im Peterhof in Freiburg auf.

Einer der Schüler vermerkt in seinem Tagebuch, dass es in der Stadt bereits angefangen hat zu schneien. Ziel ihrer Wanderung ist der Schauinsland, ein Aufstieg von 1000 Höhenmetern.

Grausiges Schicksal: Vier Schüler sollten auf dem Berg sterben. Der Fünfte stirbt auf dem Weg ins Universitätsklinikum Freiburg um 7 Uhr morgens des darauf folgenden Tages.

Wie konnte es dazu kommen?

Der Lehrer der Schülergruppe, Kenneth „Keattie“ Keast, hatte mehrere Warnungen von Einheimischen ausgeschlagen, umzukehren oder mit seiner Gruppe Schutz vor den Elementen zu suchen. Unter heutigen Umständen wäre der Lehrer nach dem Unglück vor Gericht gestellt worden für die fahrlässige Tötung seiner Schutzbefohlenen. Nazi-Deutschland und die Appeasement-Politik Englands sind nur zu gewillt, Keasts Version der Geschehnisse von einem unvorhersehbaren Wintereinbruch und seiner heroischen Rettung zu glauben.

Die Trauer wurde zur englisch-deutschen Völkerfreundschaft hochstilisiert.

Die Hitlerjugend gewann scheinbar die Deutungshoheit über die Ereignisse der unheilvollen Tageswanderung mit der Errichtung des sogenannten „Engländerdenkmals“.

Und bei dieser Version der Geschichte wäre es wohl geblieben, hätte der Freiburger Lokalhistoriker Dr. Bernd Hainmüller die Geschehnisse nicht erforscht. Seine Recherche bildete die Basis eines Artikels von Kate Conollys „The fatal hike that became a Nazi propaganda coup” von 2016 zum 80. Jahrestag des Unglücks.

Daraufhin gab das Theater Freiburg anlässlich des 900 Jahr Jubiläums ein Drama bei der englischen Autorin Pamela Carter in Auftrag.

Pamela Carter interessierte sich früh für die Thematik von nationaler Identität, Dickköpfigkeit und Gruppenzwang, die die Geschichte hergab. Besonders wichtig war ihr die Perspektive der Schüler der Strand School und die Gruppendynamik zwischen den älteren und jüngeren Schülern. Dazu konnte sie in ihrer Recherche auf das Archiv ihrer ehemaligen Universität zugreifen, von der die Strand School ursprünglich ein Teil war.

Anhand von Schulzeitschriften und Reports tauchte sie in die Welt der Schüler ein, die größtenteils aus der kleinbürgerlichen Schicht stammten und für den Beamten- und Offiziersdienst herangezogen wurden.

Die Schrecken des ersten Weltkriegs, damals „The Great War“, in denen ihre Eltern teilweise gekämpft hatten und versehrt worden waren, war den Schülern nicht mehr gegenwärtig. Längst waren die Gedenkfeiern für die Opfer unter den Schülern und Lehrern von „Mahnungen für den Frieden“ zur „Verherrlichung der Opfer“ umgeschwenkt, da nun der nächste Schub junger Menschen für das Militär herangezogen werden sollte.

Für die Autorin war die Parallelen zum Brexit offensichtlich, als sie den Stoff 2016 bearbeitete:

„The metaphor was unmissable, for me anyway. A group of misguided, badly-led English people. Continental Europeans telling, ‘Don’t go that way. Don’t go’. And the English ignoring all the signs and continuing on their way anyway, because they believed they were doing the right thing.”

Das Referendum der Schüler am Ende des ersten Aktes „The End of the tramline“ ist deshalb die größte künstlerische Freiheit, die sich das Stück nimmt. Nach mehreren Stunden Irrgang werden die Schüler von ihrem Lehrer vor die Wahl gestellt, ob sie noch den Aufstieg zum Schauinsland durchziehen wollen – oder den einfachen Weg nehmen sollen. Doch nachdem, was wir über die Schüler wissen, hatten sie nie eine Wahl.

Adaption historischer Ereignisse

Kann man denn dem Stück folgen, wer das Buch von Bernd Hainmüller nicht wie ein Libretto dazu gelesen hat?

Dabei kommt es vor allem auf Fabian Gerhardt an, der als Erzähler und als Stimme der Schüler den Großteil der Dramaturgie trägt. Er singt, spricht und erzählt sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch und gibt eine sehr unterhaltsame Performance ab. In der Narrative wurde das Innenleben des Lehrers wurde bewusst ausgespart. Beleuchtet wird er nur durch die Sicht der Schüler.

Es wird im Prolog klar gestellt, dass es sich um eine unausweichliche Tragödie handelt. Das Stück beginnt mit der Rettung der Überlebenden und Leichen durch die Bewohner des Dorfs Hofsgrund. Hätten die Schüler nicht die Kirchenglocken von Hofsgrund gehört, wären sie im Schneesturm verloren gewesen.

Auch die Musik unterstreicht das Gefühl von Verhängnis, das über dem Tag liegt. Die zweifelnde Töne des Streichquartetts, die sich bis zur Verzweiflung hinziehen, wird durch das Schlagen von Trommeln unterbrochen.

Wir spulen zurück zum Anfang des Tages: Die Inszenierung der Schüler, die einer nach dem anderen im Scheinwerferlicht posiert und vorgestellt werden, wirkt wie eine Mischung aus Dokumentarfilm, Zinnfigurenkabinet und einem Character Selection Menu in einem Videospiel.

Die einstimmige Vielstimmigkeit der Schüler wird erst in Abweichungen in der Perspektive vom Ideal des englischen Schuljungen aufgebrochen.

Das Theaterkollektiv Kommando Himmelfahrt (Komponisten Jan Dvořák, Thomas Fiedler, Julia Warnemünde, zusammen mit Bühnen- und Kostümbildnerin Eylien König und Videokünstler Carl-John Hoffmann) hat sich einiges einfallen lassen für die Adaption von Pamela Carters Text als ein Musiktheaterstück „mit Kammerorchester, Schlagwerk, E-Bass und Sopranstimme“.

Die Bühnenbilder von Eylien König sind etwa wie Dioramen im Naturkundemuseum angelegt. Der Hintergrund zeigt das Panorama der historischen Schauplätze von Kybfelsen bis zur Kapplerwand, der Vordergrund ist der Habitus der Figuren.

Mit dem Einbruch vom Schnee tritt Janina Staub als Sopranistin auf, eventuell der Engel der Geschichte. Sie gibt mit ihrer Stimme den vom Erzähler befreiten Gedanken der Schüler eine flüchtige wie zeitlose Qualität. Ihr Gesang und ihr Auftreten stellt dem Männlichen etwas Androgynes entgegen, stellt dem Krieg und der Unausweichlichkeit der Geschichtsschreibung rhetorischen Fragen gegenüber.

Mit der Bergspitze wird das Ende des Stückes erreicht. Nach sieben Stunden Wanderung, zuletzt bei einer Geländesteigung von 70 Grad, verlassen die Schüler und ihr Lehrer den Schutz der Kappler Wand. Der Sturm trifft sie mit voller Wucht.

Der letzte Überlebenskampf wird im Stück visuell ausgespart. Sinnvoll für die Message des Stücks: ein sinnloser Tod anstatt eines triumphalen Abenteuers oder Heldentodes erwartet die Jungen. Allerdings fehlt dem Zuschauer am Ende doch eine letzte Steigerung. Irgendwann liegen schließlich vereinzelt Schüler drapiert über das Bühnenbild und werden langsam mit spärlichem Puderschnee zugedeckt.

Das Chaos, die Desorientierung und den einsetzenden Tod der realen Ereignisse darzustellen, ist schwierig. Allerdings hätte man das Diorama des Bühnenbildes gerne geschüttelt, um wie in einer Schneekugel ein Schneegestöber herauf zu beschwören, das alles verdeckt.

The Misfortune of the English

Den Titel „The Misfortune of the English“ wählte Pamela Carter bewusst für seine Dissonanz. Aber was ist nun das Unglück der Engländer?

Pamela Carter überlegt einen Moment in unserem Gespräch. “Our misrepresentation of our history to ourselves,” antwortet sie. Die Verleumdung von Kolonialismus, Rassismus und die Vorstellung von English Exceptionalism hallen noch heute nach.

Mit dem Musiktheaterstück wurde jedenfalls neben das Schweigen der Überlebenden eine denkbare Perspektive der historischen Ereignisse gestellt, die unser Verständnis des Engländerunglücks bereichert.