Welche Beziehungsformen gibt es? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten – deshalb haben wir vier Menschen in unterschiedlichen Konstellationen gebeten, uns einen Einblick in ihre Beziehung(en) zu geben. Um eine offene Gesprächsatmosphäre herzustellen, lassen wir sie dabei anonym sprechen. Dieser Gesprächspartner möchte seine Beziehungen nicht hierarchisieren – und beschreibt seine Konstellation deshalb als Beziehungsanarchie.

Hallo, danke für deine Gesprächsbereitschaft!
Welche romantische Beziehung(en) führst du?

Für mich lassen sich Beziehungen nicht in irgendwelche Kategorien teilen. Sie gehen ineinander über und sind vor allem individuell und nicht durch ein übergestülptes Konzept zu betrachten. Am meisten fällt das bei romantischen Beziehungen auf: Für mich macht sie aus, dass romantische Gefühle im Spiel sind, die aber nicht besonderer sein müssen als freundschaftliche Gefühle.

An sich ist mir einfach wichtig, dass es halbwegs ehrlich ist, dass es für beide Menschen okay ist, die Beziehung so zu führen und keine Person aktiv dadurch verletzt wird. Es muss zum Beispiel für beide klar sein, wenn eine Beziehung nur eine freundschaftliche ist und nicht mehr – wobei mich dieses “nur” nervt, weil Beziehungen so wieder hierarchisiert werden.

Manche Menschen liebe ich sehr anders als andere Menschen. Ich glaube, das ist die einzige Sache, die es möglich macht, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben: Dass nicht das Gefühl aufkommt, du könntest es vergleichen. Weil die Liebe zu einem Menschen genau so individuell ist wie der Mensch selbst.

Welchen Stellenwert haben deine romantischen Beziehungen im Vergleich zu anderen Beziehungen?

Ich habe eine gute Beziehung zu meiner Family, aber mein Leben dreht sich schon um meine Beziehungen, die hier sind, die ich gerade lebe. Ich sehe mich sehr wenig als individuell und sehr viel als eingebunden in Kreise und Freundschaften und zwischenmenschliche Beziehungen. Ich kann nicht außerhalb davon denken. Das ist einfach der soziale Nebel, durch den ich mich durchbewege, das Medium, in dem ich bin und ich mag das auch sehr gerne.

Ich lebe Freundschaften sehr gerne aus und habe nicht viel Bedürfnis, mich in irgendwas zu flüchten, was das besser machen würde. Dieses Gefühl von “eine Beziehung könnte meine Base sein” von der aus ich handle. Ich will gerade keine Base haben, ich will mich zwischen Formen bewegen und gucken was passiert und mich an das anpassen können, was sich in dem Moment richtig anfühlt.

Wie wird das von deinem Umfeld wahrgenommen, wenn du von deinem Beziehungskonzept erzählst?

Gut. Die sind auch ähnlich wie ich.

Gilt das auch für deine Familie?

Mit meiner Familie ist immer ein Konflikt da. Wenn wir zum Beispiel zusammen in die Ferien fahren, dann ist immer die Partnerin von meinem Bruder dabei und es wird gesagt, dass auch meine Partnerinnen eingeladen werden können – oder auch Partner. Sie sind dann ganz stolz, wenn sie innerhalb von 30 Sekunden raffen, dass auch Beziehungen zu Männern im Spiel sind.

Was aber nicht geht, ist Freund*innen mitbringen. Was ich total unsinnig finde. Ich weiß, dass für meine Eltern romantische Beziehung heißt, dass du mit jemandem geschlafen hast und ich sehe nicht, dass eine Person, mit der ich etwas habe, wichtiger für mich sein soll oder auch enger in meine Familie eingebunden werden soll, als zum Beispiel eine meiner besten Freundinnen, mit der ich seit vier Jahren eine richtig, richtig enge freundschaftliche und irgendwie „co-dependent“ Beziehung führe. Von ihr weiß ich, dass sie auch in fünf Jahren noch da ist.

Also es ist dieses Ausgehen von einer heterosexuellen Monogamie und auch, dass eine romantische Beziehung automatisch wichtiger ist als Freundschaften, was zu Konflikten mit meinen Eltern führt. Sie attribuieren direkt jede Schwierigkeit meinem Beziehungskonzept. Immer wenn mir eine Beziehung gerade schwerfällt und ich mit jemandem über unsere unterschiedlichen Bedürfnisse reden muss, dann liegt es für die halt daran, dass ich mich nicht an die nette kleine – und vor allem klar definierte Box – von Monogamie und festen Beziehungen halte.

Würdest du sagen, dass in den romantischen Beziehungen Exklusivität ein Thema ist?

Naja, was heißt Exklusivität. Ich glaube, du kannst immer noch Beziehungsanarchie leben und exklusiv mit einer Person auf ein paar Ebenen sein. Das schließt sich nicht aus. Du musst halt gucken, was die Bedürfnisse von beiden Menschen sind. Ich habe gerade keine Beziehung, mit der ich eine Exklusivität in irgendeiner Form habe.

Aber ich würde schon sagen, dass die Verantwortung da ist, die Probleme der anderen Person ernst zu nehmen. Wenn es jemandem gerade kacke geht und ich mit der Person eng bin, dann habe ich die Verantwortung, das ernst zu nehmen und zu gucken, was die Person gerade braucht. In dem Sinne Exklusivität, dass sich Menschen darauf verlassen können, dass ich ihnen auch ungeteilte Aufmerksamkeit gebe. Vielleicht entscheide ich mich irgendwann mal für eine andere Exklusivität, aber das will ich nicht jetzt festmachen, bevor mir der Gedanke von alleine kommt.

Es ist tatsächlich schwierig, für alle Zeit zu finden. Weil oft das Gefühl da ist, Beziehungen sind so eine Eskalationsspirale: “Wir sind eng geworden und das heißt, wir werden jetzt enger” – Das fällt mir total schwer. Ich will rein und raus aus romantischen Gefühlen driften können, ich will mal Freund*innen super lange sehen und oft, und mal schaff ich das nicht.

Ich habe schon oft das Gefühl, das ich gerne mehr Zeit und mehr Kapazitäten für meine Beziehungen hätte. Und es gibt oft Konflikte darüber, dass ich Menschen das Gefühl vermittelt habe „Hey, ich bin jetzt da und ein Teil von deinem Leben“, und dann habe ich es nicht hingekriegt. Aber so etwas ist mit Kommunikation zu lösen und spricht nicht an sich gegen das Konzept. Du weißt ja vorher nicht immer, mit wem du viel Zeit verbringen willst. Das auszuprobieren ist der ehrlichste Umgang, glaube ich.

Hast du das Gefühl, dass Eifersucht auch eine Rolle in diesem Konzept spielt?

Wenn es ums eifersüchtig sein geht, bin und war ich schon auf beiden Seiten. Das hilft mir, meine Eifersucht – die auf jeden Fall da ist – einschätzen zu können. Damit komme ich irgendwie klar und kann das mir mir selbst verhandeln.

Was viel eher ein Problem ist, wenn du dich nicht ernstgenommen fühlst. Also wenn du einer Person kommunizierst: „Ich will dich gerade mehr sehen oder ich habe Lust, unsere Beziehung auf eine bestimmte Art zu ändern.“ Und die Person geht darauf ein, aber hält sich nicht daran. Wenn zum Beispiel jemand sagt „Ich habe auch voll Lust, dich mehr zu sehen“ und dann nicht danach handelt, dann fühle ich mich verarscht.

Das Problem ist in dem Moment nicht Eifersucht, sondern das Gefühl, dass mich die andere Person nicht ernst nimmt. Und das ist auch gleichzeitig der Gedanke, den ich mir am öftesten mache: Gebe ich einer Person gerade ein Commitment, das ich halten kann oder nicht? Aber gut, Umgang mit Fehlern muss sein.

Brauchst du ein Label für dein Beziehungskonzept und was ändert das Benennen für dich?

Ich habe eine Zeit lang gesagt, dass ich einfach freundschaftszentriert lebe. Aber das stimmt auch nicht. Weil ich auch romantische Beziehungen ernstnehmen will und das total schön finde, auch wenn sie nicht immer so langlebig oder auf dieselbe Art tief sind wie lang gebaute, ernste Freundschaften.

Deshalb würde ich schon sagen, dass Beziehungsanarchie der richtige Begriff wäre. Der Begriff ist auch nicht fest definiert, aber für mich sind die wichtigsten Punkte: Ich will nicht hierarchisieren, ich will nicht mich in einer Beziehungsform rooten und zentrieren und nehme gleichzeitig ernst was meine Gefühle sind, und was die Gefühle der anderen sind.

Es nervt manchmal ein bisschen, weil es wirkt wie so ein Modewort – aber es ist etwas anderes als Polyamorie, weil ich nicht poly liebe. Beziehungsanarchie ist keine Orientierung, es ist einfach ein Beziehungskonzept und es funktioniert mit total unterschiedlichen Einstellungen.