Hallo Frau von Tiedemann, Sie sind Diplom-Psychologin und unter anderem als Paartherapeutin tätig. Was versteht man unter einer toxischen Beziehung?

Toxisch heißt übersetzt vergiftet, ungesund oder belastend. Wenn wir davon ausgehen, dass Partnerschaften heutzutage weniger als eine Art Wirtschaftsgemeinschaft gesehen werden, sind wir noch aus rein emotionalem Grund in Beziehungen. So erhoffen wir uns zum Beispiel Stärkung, Regeneration und eine positive Gegenseitigkeit.

Eine toxische Beziehung ist keine Beziehung, in der ich mich gestärkt und genährt fühle und emotionale Resonanz bekomme, sondern eine Beziehung, die mich durch die stattfindende Kontrolle und Manipulation eher Kraft kostet und in der diese Regeneration und Stärkung fehlen. Deswegen kann man von ungesunden, belastenden oder „vergifteten“ Beziehungen sprechen.

Was sind die Anzeichen und Merkmale einer toxischen Beziehung?

In jeder Beziehung gibt es toxische Momente, in denen wir uns verletzen. Es ist normal, dass Beziehungen, die auf Dauer angelegt sind, früher oder später immer zu Verletzungen führen. Der amerikanische Psychologe John Gottman hat zum Beispiel Langzeitstudien mit Paaren durchgeführt und dabei festgestellt, dass Paare, die sich als subjektiv glücklich einordnen, ein Verhältnis von positiver und negativer Interaktion von 5:1 haben. Eine negative Interaktion kann also gut verkraftet werden und schadet der Beziehung nicht, wenn es einen hohen sogenannten Grundumsatz positiver Gegenseitigkeit gibt. Wir brauchen also ein freundliches Wort, einen Dank, eine Berührung oder einen Blick. Auf diesem Boden können wir es dann auch leichter ertragen, wenn der Partner oder die Partnerin mal etwas tut, was uns kränkt oder verletzt.

In toxischen Beziehungen ist das Verhältnis deutlich umgedreht. Dementsprechend enden diese Beziehungen auch häufiger. Die Ergebnisse von John Gottman waren so, dass er mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent voraussagen konnte, dass die Ehen enden, wenn die sogenannten vier „apokalyptischen Reiter“ einmarschieren, die bei toxischen Beziehungen typisch sind. Dabei handelt es sich um Abwertung, Kritik, Mauern und Rückzug.

Es handelt sich um Lösungsstrategien, mit denen man in der Beziehung versucht, den anderen unter seine Kontrolle zu bringen. Man kann sie sich vorstellen wie innere Beschützer, deren Aufgabe es ist, eigene Grundbedürfnisse zu sichern. Sie stammen aus biographisch früheren Zeiten – Kindheit oder späteren negativen Lebenserfahrungen – und bringen uns dazu, nicht besonders angemessen, sondern antisozial und für andere überfordernd zu agieren. Dies triggert wiederum innere Beschützer des anderen Partners, zum Beispiel indem dieser sich besonders unterordnet, anpasst oder verfolgend oder flüchtend reagiert. Nach einiger Zeit enden diese Beziehungen mit hoher Wahrscheinlichkeit.

Ein Anzeichen ist auch, dass der eine – bei heterosexuellen Beziehungen tendenziell der Mann – am Anfang eine Art „Love Bombing“ betreibt, mit dem er die Frau erobert. Dabei überschüttet er sie mit einer dichten Menge an liebesbekundenden Gesten und Aufmerksamkeiten, trägt sie auf Händen und sichert die Bindung, indem er ihr Vertrauen gewinnt. Lässt sie sich darauf ein und eine Beziehung mit höherem Verbindlichkeitsgrad entsteht, wird sie nach einer gewissen Zeit uninteressant. Plötzlich beginnen Streitereien, Anklagen und Entwertungen. Das Toxische besteht in der Wechselseitigkeit, da die Partnerin sich immer mehr bemüht, es recht zu machen und nicht bemerkt, dass die Partnerschaft funktionalisiert ist und nur der Sicherung des Selbstwerts dient.

Wir haben hier also keinen Täter und kein Opfer, sondern beide tragen zur unguten Lage bei. Als Gegenpart ist da eine Frau, die endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die sie sich – manchmal lebenslang – gewünscht hat. Somit „brauchen“ beide einander, ohne zu bemerken, dass hier der Start einer toxischen Beziehung liegt. Typisch sind im Verlauf sogenannte „kipping points“, zum Beispiel, wenn die Frau an beruflicher Karriere oder Status gewinnt oder wenn Kinder ins Spiel kommen. Der Mann fühlt sich gekränkt und dann kippt das System und wird toxisch. Auch die Hochzeit ist oft ein Wendepunkt, weil die Frau dann ja nicht mehr erobert werden muss.

Frauen berichten beispielsweise oft, dass er von heute auf morgen giftig und wütend wurde oder sie kritisierte. Dann fängt dieser toxische Teil an, der sehr leidvoll ist, weil eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen den beiden entsteht, bei der man sich als Außenstehender fragt, wie sie das so lange aushalten. Aber der Nutzen liegt immer noch höher als der Leidensdruck. Beide sind selbstunsicher, wollen nicht verlassen werden, brauchen einander. Es geht immer wieder in Wiederholungsschleifen, so dass es Attacken gibt und dann wieder Entschuldigungen und danach erneute Kränkungserlebnisse und so weiter. Letztlich lässt sich der andere Beziehungspart immer wieder darauf ein, traut und glaubt wieder und setzt keine Grenzen. Dadurch kann das dann schon eine ganze Weile gehen.

Welche Persönlichkeitsmerkmale oder Erfahrungen führen dazu, dass Menschen Teil einer toxischen Beziehung werden?

Die Grundlage ist eine sogenannte frühe Ich-Struktur-Störung, die beide Beziehungspartner*innen haben und, die die Basis für verschiedene Persönlichkeitsstörungen darstellt. Eine brüchige Ich-Struktur bedeutet, sie haben Mühe das, was ein Baby am Anfang fragmentiert zur Verfügung hat, wie Fühlen, Denken und Empfinden, und was dann normalerweise über eine oder mehrere sensible Fürsorgepersonen zusammenfindet, zu integrieren.

Das hat viel mit der biographischen Entwicklung zu tun, dass ihnen früh in ihrer Kindheit Grundbedürfnisse wie Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung, Sicherheit, Zugehörigkeit, emotionale Resonanz und so weiter nicht zugesichert waren und nicht adäquat auf ihre Signale und Bedürfnisse eingegangen wurde. Oft haben sie auch Erfahrungen von Ohnmacht oder Grenzüberschreitung und Missbrauch gemacht.

Diese Menschen können ganz freundlich und im nächsten Moment wütend sein, weil sie einen inneren Anteil haben, der dieses kleine Kind in ihnen schützen möchte, damit sie sich nie wieder so ohnmächtig und hilflos fühlen. Häufig findet man unter diesen Personen Menschen in sicheren Positionen, also Chefs, Führungspersonen und sehr dominante Persönlichkeiten.

Diese Überlebensstrategien bilden dann eine sogenannte narzisstische Persönlichkeitsstruktur aus, wobei „narzisstisch“ so viel heißt wie „den Selbstwert betreffend“. Ständiges gelobt werden und viel positive Resonanz zu bekommen bleibt der zentrale Fokus. Außer mit der narzisstisch akzentuierten Persönlichkeitsstörung hat man es in toxischen Beziehungen oftmals auch mit der Borderline akzentuierten Persönlichkeitsstörung zu tun, die tendenziell einen leichten Überhang bei Frauen aufweisen.

Es gibt also multikausale Ursachen, aber grundsätzlich kann man sich das „Toxische“ so vorstellen, dass zwei Ich-Struktur-schwache Menschen aufeinandertreffen und mit ihren inneren Beschützern das Leben schwer machen.

Lässt sich vor diesem Hintergrund, dass beide Partner*innen diese brüchige Ich-Struktur aufweisen, überhaupt eine pauschale Unterscheidung in Täter*in und Opfer treffen?

Das Menschenbild Täter/Opfer, und die damit einhergehende Dichotomie von gut und schlecht, ist problematisch. Der gemeinsame Nenner ist ja, dass beide Beziehungspartner emotionale Not erlitten haben. Jemand, der einen anderen unterdrückt, braucht jemanden, der sich unterdrücken lässt. Jemand, der einen anderen manipuliert, braucht auf der anderen Seite jemanden, der das zulässt. Auf der Oberfläche scheint es, so ein Täter-Opfer-Bild zu geben und ich will nicht in Abrede stellen, dass da üble Täterhandlungen geschehen, wenn jemand immer wieder Grenzen überschreitet. Aber es gibt auf der anderen Seite auch jemanden, der es so weit kommen lässt, sich selbst jahrelang übergeht, sich emotional und leider oft auch finanziell abhängig macht und immer wieder demütigen lässt.

Das Problem ist, dass diese Menschen meistens selbst seelische Grausamkeiten erlebt haben und nicht aus Versehen so sind, wie sie sind. Deswegen wehre ich mich eher gegen eine zu rasche „Täter-Opferzuschreibung“. Ich glaube, wir können uns gar nicht vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man überhaupt kein Gefühl zum eigenen Selbstwert hat. Das sind Menschen, die sich verloren fühlen, nie erlebt haben, wie sich emotionale Resonanz und Angenommensein anfühlt, denen deswegen Empathie fehlt, weil sie diese selbst nicht erfahren haben und die dann Liebesbeziehungen auf der Grundlage von Manipulation, Kontrolle, Druck und auf der anderen Seite übertriebener Fürsorge und unrealistischen Idealisierungen führen. Das ist ein anstrengendes Leben für alle Beteiligten.

Welche Auswirkungen hat eine toxische Beziehung, vor allem bezüglich Sozialleben und Psyche?

Oft kritisiert und entwertet der unterdrückende Partner den Freundeskreis und verlangt, dass die unterdrückte Person sie nicht mehr trifft. Irgendwann fängt sie dann tatsächlich an, sich zurückzuziehen, um unangenehme Situationen zu vermeiden, wodurch der Kontakt abbricht und das soziale Umfeld ausdünnt.

Gleichzeitig steigt das Abhängigkeitslevel zum Partner. Das ist ein typisches Phänomen solcher Beziehungen und auch eine Form der Destruktivität. Das Selbstbewusstsein wird immer mehr untergraben, bis man merkt, man ist ganz allein und hat nur noch seinen Partner. Das geht sogar bis hin zu machtvollen Verhinderungen, zum Beispiel das Verbot allein in den Urlaub zu fahren oder arbeiten zu gehen, eigene Möbel in die Wohnung einzubringen, ein eigenes Bankkonto zu haben oder an gemeinsam erwirtschaftetem Vermögen beteiligt zu werden.

Das ist eine Art schrittweises Aufgeben der eigenen Autonomie. Dann werden Schuldgefühle eingeredet, viele Grenzen überschritten, viel Kritik geübt und man kommt immer mehr in eine Verteidigungshaltung. Zusätzlich gibt es viel Streit, bei dem aus Kleinigkeiten ein großes Drama gemacht wird, was dann auch nicht sachlich diskutiert werden kann. Es gibt eine klassische Nicht-Fähigkeit sich zu entschuldigen, zu bedanken oder in Gegebenes einzufügen.

Gibt es auch Partnerschaften/Beziehungen, in denen den Beteiligten nicht klar ist, dass sie sich in einer toxischen Beziehung befinden?

Ja. Ich glaube, dass viele es lange nicht merken, weil sie noch zu sehr von einer Vorstellung getragen sind, wie der andere ist und diese Vorstellung dann auf den anderen projizieren. Außerdem gibt es punktuell auch immer wieder „Beweise“, dass der andere ja ein guter Mensch ist. Wenn die Frau zum Beispiel am Vermögen beteiligt werden möchte in Form von Verträgen oder einer Eheschließung, wird sie hingehalten, indem er beteuert, wie sicher sie sich bei ihm fühlen könne, oder mit einem Vorwurf konfrontiert wie: „Vertraust du mir etwa nicht?“

Die Menschen sehnen sich alle nach dem Gleichen, wir wollen alle geliebt, anerkannt und in unserem Selbstwert nicht gemindert werden und das ist ein über den Globus hinweg gleichbleibendes Grundbedürfnis. Da, wo es verletzt wird, gibt es dann eine Irritation. Ich denke schon, dass die Beteiligten merken, dass da etwas nicht stimmt. Anscheinend existiert auch hier ein innerer Beschützer, der Harmonie erhalten möchte, sich nicht wichtig machen will und dann das ungute Gefühl bagatellisiert oder nicht wahrhaben will. Es gibt viele innere „Vernebler“, die dafür sorgen, dass man das erstmal lange nicht spürt, weil das Alleinsein und die Ablehnung als viel dramatischer erlebt wird.

Das betrifft oft Menschen, die in ihrer Kindheit emotional oder real alleingelassen wurden, die sich über Funktionieren die Liebe sicherten, was für das Kind eine essenzielle Erfahrung ist. Von dem her kann es gut sein, dass man das erstmal eine Zeit lang nicht merkt. Viele fragen sich in der Rückschau, warum sie bestimmte Dinge überhaupt so lange mitgemacht haben und sind darüber dann sehr erschüttert. Es ist zugleich Chance und Beginn einer wichtigen Autonomieentwicklung.

Und was ist da der Grund, dass es nicht schon eher zu einer Trennung kommt?

In dem Moment, in dem Kinder kommen, ist die Frau abhängig – finanziell und emotional. Sie hat oft ein idealisiertes Familienbild im Kopf, möchte den Kindern den Vater nicht schlecht reden, möchte das Familienidyll und das Familienleben nicht gefährden. Vor diesem Hintergrund ertragen Frauen – aber auch manche Männer – endlos lange sehr viel. Wenn sie merken, dass die Kinder zur Zielscheibe werden, dann werden sie erstmals aktiv, aber sich selbst übergehen sie ganz lange. Der Schritt sich zu trennen und dann mit möglicherweise zwei kleinen Kindern auszuziehen, ist angsteinflößend. So eine Scheidung kann außerdem auch eine große Kränkung und ein enormer sozialer Abstieg sein. Die finanzielle Abhängigkeit, aber auch die idealisierten Familienmodelle sind oft Motive länger zu bleiben.

Selbstunsichere Partner setzen oft auch einen hohen Druck an, möglichst bald Kinder zu bekommen, weil sie ein Statussymbol sind. Manche Frauen berichten, wie sie dazu über romantische Versprechungen emotional unter Druck gesetzt wurden und ihre sicheren Anstellungen aufgaben, um die ersehnte Familie zu gründen.

Lässt sich eine solche Beziehung „entgiften“, also kann daraus auch eine gesunde Beziehung werden?

Man kann so eine Beziehung entgiften, indem man darauf achtet, dass es eigene Räume gibt, bis hin zu eigenem Zimmer, eigenem Bett, eigenem Job, eigenem Geld – also, dass die Beziehung sozusagen entflochten und aus der Abhängigkeit herausgeführt wird und dass man nur das miteinander teilt, was man gut teilen kann.

Man muss dem auch hinzufügen, dass diese Beziehungen häufig eine hohe Erotik und Anziehung haben. Oft handelt es sich um sehr attraktive, schillernde Persönlichkeiten. Dieses Faszinierende am anderen wollen sie nicht verlieren und das können sie auch weiter teilen, aber wichtig ist eben, dass jeder seine eigenen Lebensbereiche zurückerobert, Grenzen setzt und einhält.

Wichtig ist auch, dass die Paare sich Hilfe holen. Die Notwendigkeit dafür kommt oft erst sehr spät und wenn da noch etwas zu retten ist, dann dauert es lange. Viele Verletzungen müssen erst ausgeräumt werden, damit ein Neubeginn möglich wird. Dazu fehlt leider oft die Bereitschaft. Dann folgt eventuell noch eine Trennungsbegleitung. Manchmal bleibt ein Partner in der Einzeltherapie. Besser wäre ein früherer Start der Paarbegleitung. In einem moderierenden und sicherheitsgebenden Setting sind Entwicklungsschritte leichter.