Als ich mit meinem Ticket den Einlass beim Festivalgelände passiere, nickt mir die Frau vom Security-Team zu. Mein erster Weg führt mich zum Getränkestand, bei dem ich mir erstmal ein kaltes Getränk kaufen will – es ist heute sehr heiß. Ich sehe eine blonde Frau, die gerade die Limo- und Bierkästen auffüllt. Sie arbeitet beim Getränkelieferant. Mit einem Becher Bier in der Hand laufe ich zur Bühne – ich will den Auftritt von Paula Hartmann nicht verpassen. Auf den Monitoren, die links und rechts neben der Bühne angebracht sind, kann das Publikum noch einmal das Line-Up checken. Während auf der zweiten Stage gerade die Band Blond spielt, machen sich Ikkimel und Nina Chuba als nächste Headliner für die Mainstage bereit.
Für wen diese Vorstellung jetzt utopisch klang – richtig, das ist sie leider auch. Ersetzt man jegliche weiblich gelesenen Personen in der Schilderung durch männliche hat man ungefähr das Bild, das die Autorin Rike van Kleef in ihrem Buch „Billige Plätze“ von der Musikindustrie zeichnet, und die vor allem eins deutlich macht: Es muss sich etwas ändern.
Sexismus und patriarchale Strukturen auf, hinter und vor den Bühnen
Rike van Kleef setzt sich in ihrem Buch nicht nur mit der Frage auseinander, wem in der Musikbranche wortwörtlich eine Bühne gegeben wird, sondern auch, wie es um die geschlechtsspezifischen Unterschiede vor und hinter der Bühne steht. Bis heute werden die Headliner-Slots bei großen Festivals fast ausschließlich mit Männern besetzt. Die Studie „Wer gibt hier den Ton an? über die Repräsentanz von Geschlecht auf deutschen Unterhaltungsmusik-Festivalbühnen“ untersuchte zum Beispiel die Line-Ups der fünf besucher*innenstärksten deutschen Unterhaltungsmusikfestivals aus dem Jahr 2019 mit dem Ergebnis, dass fast 73 Prozent der Slots allgemein und sogar annähernd 90 Prozent der Headliner-Slots mit männlichen Künstlern besetzt wurden. Zwar hätte sich der Anteil weiblicher Künstlerinnen, vor allem bei kleineren Festivals, mit den Jahren gesteigert, von einer auch nur annähernd gerechten Verteilung könne man allerdings kaum sprechen, heißt es im Buch.
Es bleibt mit der Unterrepräsentation von FLINTA-Personen aber nicht bei dem Platz auf der Bühne. Auch in vielen anderen Bereichen, wie dem (Artist-)Management, dem Booking oder bei den Leuten, „die eben entscheiden“, handelt es sich zumeist um Männer. Frauen besetzen währenddessen vermehrt Jobs in den Bereichen PR, Marketing oder Styling. Das hat auch mit den vorherrschenden Gender-Stereotypen zu tun, nach denen Jobs mit dem Attribut „durchsetzungsfähig“ tendenziell eher männlich konnotiert sind, während Kommunikation, Emotionalität oder Fürsorglichkeit eher weiblichen Jobs beziehungsweise Personen zugeschrieben werden. Es herrscht somit ein Ungleichgewicht zwischen der Entscheiderrolle (meist männlich besetzt) und der Assistenzrolle (meist weiblich besetzt).
Die daraus entstandenen „Boys-Clubs“ und der damit einhergehende Zugang zu Ressourcen, Reichweite und Möglichkeiten lassen ein Machtgefälle entstehen, das sich bis hin zu etwaigen Missbrauchsfällen ausweiten kann, denen ebenfalls ein Kapitel im Buch gewidmet ist.
Text changiert zwischen Fakten und Gefühlen
Eine große Stärke des Buches „Billige Plätze“ ist die enorme Recherchearbeit von Rike van Kleef. Die Kulturarbeiterin, Journalistin und Autorin hat selbst als Bookerin und auf Veranstaltungen gearbeitet. Sie bringt viele eigene Erfahrungen und Beobachtungen mit, die sich auf zahlreiche nationale sowie internationale Studien und Erkenntnisse stützen und in einem mehrseitigen Literaturverzeichnis belegt sind. Das Buch baut auf ihrer Bachelorarbeit aus dem Jahr 2022 auf, die Belege für eine Genderungerechtigkeit innerhalb der Musikbranche in Form von Zahlen und Daten liefert. Belege, die ihre dargestellten Thesen faktisch untermauern.
Trotzdem bleibt es nicht nur bei nüchternen Daten. Rike van Kleef interviewt für ihr Buch zahlreiche Personen – seien es Booker*innen, Techniker*innen, Musiker*innen oder Psycholog*innen. Es gelingt ihr damit nicht nur, die Zahlen an sich, sondern ebenso die Menschen dahinter samt ihren Emotionen und Gedanken abzubilden.
Konkrete Lösungsansätze
Das Buch „Billige Plätze“ will die Lesenden allerdings nicht mit einem ausschließlich düsteren Bild der Gegenwart und Zukunft zurücklassen – vielmehr sollen konkrete Handlungstipps im vorletzten Kapitel dazu ermutigen, sich aktiv für eine gendergerechtere Branche einzusetzen. Wichtig ist zum Beispiel in einem ersten Schritt sich für misogyne, sexistische und/oder queerfeindliche Strukturen zu sensibilisieren und sich seiner eigenen Position und möglichen Privilegien bewusst zu sein.
Rike van Kleef rät FLINTA-Personen, sich untereinander zu vernetzen. Musikjournalist*innen sollten mehr Aufmerksamkeit für FLINTA-Künstlerinnen schaffen. Auch Awareness-Konzepte und Safer Spaces bei Veranstaltungen, die es zunehmend gibt, seien Möglichkeiten.
Wichtige Arbeit leisten in diesem Bereich auch Netzwerke und Initiativen, wie Girls* Get Shit Done, Music Women* Germany und andere. Die Missstände werden also erkannt. „Wir dürfen optimistisch sein, aber es gibt noch viel zu tun und dafür braucht es uns alle“, schreibt Rike van Kleef.



