Für uns alle hat sich in den letzten Monaten der Alltag komplett verändert. Die derzeitigen Beschränkungen des öffentlichen Lebens als Reaktion auf die Corona-Pandemie sind restriktiver als alles, was wir bisher erfahren haben. Sie sind wohl das einzige, was hoffentlich verhindern kann, Ärzte und Pflegepersonal in unvorstellbare Situationen zu zwingen und tausende von Toten zu Grabe zu tragen.

In einer idealen Gesellschaft würden diese Einschränkungen wahrscheinlich nicht durch zentrale Verordnungen, sondern durch den Verstand und das Verantwortungsbewusstsein eines Jeden vorgenommen werden. In unserer derzeitigen Welt muss der Staat diese Aufgabe übernehmen und unsere Freiheiten beschränken: Mit dem Ziel, die Gesundheit zu schützen und die Versorgungslage aufrecht zu erhalten. Das ist unvermeidbar und basiert auf wissenschaftlicher Evidenz.

Wen treffen die Ausgangsbeschränkungen?

Nur sind Ausgangsbeschränkungen nicht für alle gleich gut einzuhalten. Freiburg hat viele öffentliche Plätze, die für einige den notwenigen Lebens- oder Geschäftsraum darstellen. Natürlich geht auch das in diesen Zeiten aufgrund des Infektionsrisikos nicht mehr. Wir alle müssen uns aus Solidarität massiv einschränken. Aber wenn wir das aus Solidarität tun, sollten wir uns dann nicht zumindest kritisch damit auseinandersetzen, was Solidarität bedeutet?

Die Tafel hat geschlossen, öffentliche Plätze sind gesperrt, wohin gehen nun Freiburger, die auf diese Orte angewiesen sind? Die Ausgangsbeschränkungen verschleiern leicht ein Problem: Die soziale Ungerechtigkeit, die sonst an solchen Plätzen sichtbar ist, wird nun verdrängt. Nicht alle Menschen haben ein sicheres, geräumiges Zuhause, und diese Menschen werden von den derzeitigen Ausgangsbeschränkungen besonders hart getroffen.

Wie viel Freiheit müssen wir opfern?

Mit dem Hinweis auf Sicherheit lassen sich schnell viele Freiheiten einschränken. Donald Trump oder Viktor Orbán zeigen auf, wie reizvoll Machtmissbrauch ist, indem sie versuchen, unter Verhängung eines nationalen Notstands Parlamente zu umgehen und Verfassungen zu ändern. Die deutschen Politiker sind bisher glücklicherweise weit davon entfernt.

Dennoch frage ich mich, wo in Freiburg offizielle Übersetzungen und die transparente Kommunikation von neuen Maßnahmen veröffentlicht wurden, sodass nicht erst bei Konfrontation mit der Polizei über neue Ausgangsbeschränkungen aufgeklärt wird. Ich frage mich auch, ob die Idee, unsere Handys zu orten, bald umgesetzt wird, um Infektionswege nachzuvollziehen und welche Schritte der Überwachung noch nötig erscheinen.

Die neuen Maßnahmen kommen im Galopp daher und wir haben kaum Zeit, sie kritisch zu evaluieren, denn wir müssen Zeit im Kampf gegen das Virus gewinnen. Das ist gefährlich. Denn damit wird uns auch die Zeit geraubt, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und verschiedene Bevölkerungsgruppen mit einzubeziehen.

Wir müssen deshalb die Politik in Krisensituationen umso kritischer beobachten und uns fragen, wen die Beschränkungen am meisten treffen und ob sie verhältnismäßig sind. Wir können keine Solidaritätsdiktatur verhängen, ohne uns solidarisch auch für die Menschen einzusetzen, die die Ausgangsbeschränkungen am härtesten treffen.

Wenn jetzt der kritische Diskurs stirbt, bloß weil alles so schnell geht und die Angst uns treibt, schweben wir in Gefahr, unsere demokratischen und solidarischen Grundwerte zu verletzen. Dabei haben einige von uns jetzt eventuell sogar Zeit, darüber nachzudenken, warum es plötzlich möglich ist, Freiheiten einzuschränken, weil wir selbst vor dem Elend stehen, es uns aber aufgrund des Elends anderer bislang nie möglich war.

Alternative Formen des Protests

Mit Bannern die alternativen Möglichkeiten des Protestes nutzen.

Bei aller Solidarität und der Formierung eines „Wir“ gegen Corona – der Effekt darf niemals sein, dass wir als Gesellschaft unsere Freiheit unkritisch aufgeben. Mit allen sinnvollen Maßnahmen von Versammlungsverboten müssen alternative Formen des Protests und des kritischen Widerstands entstehen. Nehmt euch ein Banner, hängt es vor euer Fenster und fordert kritisches Denken. Fragt, wer gerade in finanzieller Not ist und wen die Hilfen der Bundesregierung nicht erreichen.

 

Wir können während und auch nach Corona in einer Gesellschaft leben, in der wir unsere demokratischen Grundwerte diskutieren und gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen.